Aus heiterem Himmel: Warum Kantorin Annette Samse Linden verließ

Es war eine freundliche Atmosphäre, die neulich in der St. Martin-Kirche in Linden zu spüren war. Ein Abschiedsgottesdienst wurde gefeiert, die langjährige Pfarramtssekretärin ging in den Ruhestand. Der Pastor predigte über Umbruchsituationen im Leben. Es gab Blumen und Applaus auf offener Szene. Im Anschluss standen alle coronakonform unter freiem Himmel zusammen, bei Saft und Musik vom Posaunenchor. Einen ähnlichen Gottesdienst hatte es ein paar Wochen zuvor schon mal in St. Martin gegeben. Die Kantorin Annette Samse verließ die Gemeinde, mit fast 22 Jahren war sie sogar noch länger dagewesen als die Pfarramtssekretärin. Doch an jenem Sonntag war die Stimmung alles andere als gelöst. Etlichen Zuhörern kam der Tonfall der Predigt des Pastors frostig vor. Und zum Schluss stimmte die scheidende Kantorin ein Stück an, das man nicht oft in einer Kirche hört: die Anti-Heuchler-Hymne „Ein ehrenwertes Haus“ von Udo Jürgens. Gefeierte Aufführungen: Was war passiert? Ganz genau weiß man das bis heute nicht. Was man weiß, ist: St. Martin ist die älteste Kirche in Linden, errichtet im 13. Jahrhundert. Im Krieg wurde sie zerstört, 1957 baute der Architekt Dieter Oesterlen ein neues Kirchenschiff. Bekannt war St. Martin aber vor allem als herausragende Kirchenmusikgemeinde. Unter der Leitung von Annette Samse führte der Chor 2018 ein gefeiertes „Deutsches Requiem“ von Brahms auf. Es gab ein Querflöten- und ein 20-köpfiges Blockflötenensemble weit über dem Niveau von Hobbymusikgruppen. Die Kantorin dirigierte auch noch einen Kinder- und Jugendchor und organisierte Festivals und eine eigene Konzertreihe. Und dann, im Januar 2019, änderte sich plötzlich alles. Es begann damit, dass Proben ausfielen. Dann wurde Annette Samse suspendiert. Sogar in den Schaukästen der Gemeinde stand, die Kantorin sei nicht im Dienst. Als sie ihre Arbeit im März wieder antreten wollte, wurde sie von Pastor Martin Häusler des Hauses verwiesen. Man nahm ihr den Schlüssel ab, zusätzlich wurde das Schloss des Gemeindebüros ausgetauscht. In der Folgezeit tauchten Mitglieder des Kirchenvorstands – Vorsitzender: Pastor Häusler – in den Musikgruppen auf, sagten nicht, was los war, fragten nur, ob Konzerte auch ohne die Kantorin stattfinden könnten, was regelmäßig verneint wurde. Schließlich bekam Annette Samse eine Abmahnung von der Gemeinde. Sie wurde krank dadurch, musste in eine Klinik gehen. Und sie nahm sich einen Anwalt. Tatja Stülten schiebt den Kuchenteller in ihre Wohnung in Linden über den Tisch. Sie ist PR-Beraterin von Beruf, hat zehn Jahre im Chor von St. Martin gesungen. Mit am Tisch sitzt Diana Braunholz, eine junge Lehrerin, sie war auch im Chor. Die beiden Frauen erzählen von dem Konflikt in der St. Martin-Gemeinde, von Suspendierung und Schlüssel und Abmahnung. Diana Braunholz sagt: „Ich habe jetzt immer ein blödes Gefühl, wenn ich an der Kirche vorbeigehe.“ Tatja Stülten sagt: „Ich war entsetzt, wie kaltherzig der Kirchenvorstand vorgegangen ist.“ Sparkonzept: Offiziell hat ihnen nie irgendjemand gesagt, worum es eigentlich ging. Die Frauen wissen aber, dass Pastor Häusler und Kantorin Samse, wie auch andere Gemeindemitglieder erzählen, nicht unbedingt die besten Freunde gewesen sind. Sie wissen weiterhin, dass der Stadtkirchenverband in Zeiten schwindender Kirchensteuerzahler ein Sparkonzept verfolgt: Von den zuletzt sechs Kirchenkreiskantorenstellen – eine davon die von Annette Samse in Linden – sollen mittelfristig nur noch vier übrigbleiben. Protest dagegen hatte sich bereits in der Neustädter Hof- und Stadtkirche durch die Pensionierung des dortigen Kirchenmusikdirektors und Chorleiters Lothar Mohn entzündet; die Stelle wurde dennoch nach Herrenhausen verlegt. Schließlich: Annette Samse hatte – privat, neben ihrer Kantorinnentätigkeit – all die Jahre Musikunterricht für Kinder aus der Gemeinde gegeben. Der Monatsbeitrag belief sich auf zehn Euro. Das Geld der Anfängergruppen hatte die Kantorin der Kirche gespendet, das der Fortgeschrittenen behalten. Der Kirchenvorstand war offenbar plötzlich erbost darüber, weil Kirchenangebote kostenfrei sein müssten. Tatja Stülten und Diana Braunholz berichten, dass Mitglieder des Kirchenvorstands nicht nur bei Gemeindemitgliedern angerufen und gefragt hätten, ob sie für den Flötenunterricht ihrer Kinder Geld gezahlt haben, sondern dass sie auch Kinder ausgehorcht hätten, ohne Wissen der Eltern. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle drei Vorgänge zu den Ursachen des Konflikts gehören, ist hoch. Von dem Vorwurf der Unregelmäßigkeiten beim Flötenunterricht ist aber nichts übriggeblieben, denn es handelte sich nicht um ein Angebot der Kirche. Im Mai 2019 entschied ein Gericht, dass die Abmahnung zurückgenommen werden musste. Annette Samse hat dann zwischenzeitlich wieder gearbeitet. Aber offenbar konnte kein tragfähiges Klima mehr hergestellt werden. Die Kantorin ersuchte um ihre Versetzung. Man bot ihr die Stelle der Kirchenkreiskantorin für den Bereich Nordwest mit Sitz in Letter an. Böses Blut: Das meiste böse Blut sei dadurch entstanden, dass niemand offen über den Konflikt sprach, sagen die Frauen. Immer habe der Kirchenvorstand erklärt, er schätze die Arbeit von Annette Samse, gleichzeitig habe er gegen sie agiert und sich ansonsten darauf zurückgezogen, man dürfe nichts sagen, Personalangelegenheit. Der Versuch, die Affäre beim Stadtkirchentag zu thematisierten, scheiterte an der Superintendentur. Diana Braunholz sagt: „Wie soll ich es noch ernstnehmen, wenn der Pastor von Nächstenliebe redet.“ Annette Samse selbst äußert sich zu all dem nicht. Die Kantorin hat sich in einer Vereinbarung mit ihrem Arbeitgeber verpflichtet, nicht mit der Presse zu sprechen. Der Kirchenvorstand will auch nichts sagen, auf Drängen des Stadtkirchenverbands, wie zu hören ist: Kirchenvorstandsfrau Kari Bergmann, die zunächst zu einem Interview bereit war, sagte wieder ab: Das sei „zu unserem Schutz“ so beschlossen worden. Nachfrage beim Stadtkirchenverband: Was war Ursache des Konflikts und wieso ist er eskaliert? Superintendentin Bärbel Wallrath-Peter äußert sich in wohlgesetzten Worten zu den „Herausforderungen“, die entstehen, „wenn unterschiedliche Menschen zusammenfinden“. Das heißt konkret was? „Dazu kann ich nichts sagen, das ist eine Personalangelegenheit.“ Und wie beurteilt sie den Schaden, den die Spannungen in der Gemeinde angerichtet haben? Dazu könne sie auch nichts sagen, sagt die Superintendentin: „Ich war nicht dabei.“ Rücktritte im Förderverein: Heike Twele war dabei. Sie war stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Kirchenmusik in St. Martin. Sie erzählt von den Bemühungen des Vereins zu vermitteln, eine Verständigung, eine Mediation anzuregen, aus Sorge, all das, was in der Kirchenmusik in der Gemeinde erreicht worden sei, könne verlorengehen. Aber der Kirchenvorstand habe nicht darauf reagiert. Die Gemeindeoberen hätten sich verhalten, „als ob etwas von selbst weggeht, wenn man nicht hinguckt“, und zur Illustration legt Heike Twele die Hände vors Gesicht, wie ein Kind, das denkt, was es nicht mehr sehen kann, ist nicht mehr da. Als sich nichts tat, wollte die Mehrheit des Fördervereinsvorstands an die Mitglieder schreiben. Aber der Vorsitzende Michael Schülke, der auch Mitglied im Kirchenvorstand ist (und sich ebenfalls nicht gegenüber der Presse äußert), hat das verhindert. Im Juli sind sieben von neun gewählten Vorstandsmitgliedern des Vereins zurückgetreten. Auch Heike Twele hat ihren Vorstandsposten abgegeben und ihren Austritt aus dem Förderverein erklärt. Sie überlegt, ob die Unfähigkeit, Streit auszutragen, ein strukturelles Problem der Kirche ist: Alle wollen christlich miteinander umgehen und scheuen deswegen vielleicht vor einer Konfrontation zurück. Das Unterdrücken von Konflikten aber mache alles nur noch schlimmer. Etliche Gemeindemitglieder, erzählen Diana Braunholz, Tatja Stülten und Heike Twele, seien wegen der Zerwürfnisse aus der Kirche ausgetreten oder hätten sich umpfarren lassen. Pastor Martin Häusler, dazu befragt, sagt, er wisse nicht, warum jemand die Gemeinde verlasse. Annette Samse hat inzwischen ihren neuen Job angetreten. Zu den ersten Proben haben sich das vormalige St. Martin-Blockflöten- und auch das Querflötenensemble vollständig in Letter eingefunden. In St. Martin spielt noch der Posaunenchor. Eine Kantorenstelle ist ausgeschrieben, es ist nur noch eine halbe. Der Musikunterricht für Kinder aus der Gemeinde soll künftig über ein Angebot des Stadtkirchenverbands laufen. Es wird kostenpflichtig sein. Von Bert Strebe