Ausgangssperre in der Region Hannover: Warum die Justiz die Corona-Politik zerpflückt

Richter in Nachbarländern wundern sich dieser Tage ein wenig darüber, was in Niedersachsen und speziell in der Region Hannover los ist. Sie haben durchaus wahrgenommen, dass das niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) am Dienstagabend die von der Region Hannover verhängte nächtliche Ausgangssperre in einem Eilbeschluss für „voraussichtlich rechtswidrig“ erklärt hat – und damit das Verwaltungsgericht Hannover bestätigt hat. Das an sich ist nicht so sehr bemerkenswert – „Verwaltungsrecht ist keine exakte Wissenschaft, in der 1 plus 1 gleich 2 ergibt“, sagt etwa der renommierte hannoversche Verwaltungsjurist Eckhard David. Was der eine Jurist an Freiheitsbeschränkung der Bürger zur Bekämpfung in der Pandemie noch für angemessen hält, lässt der andere schon nicht mehr durchgehen. David weiß, wovon er spricht. Er hat etliche Klagen gegen die Region gewonnen – und etliche für die Region. Vernichtende Kritik: Für Verwunderung unter Juristen sorgt aber der deutliche Ton, in dem die Richterkollegen am niedersächsischen OVG die Corona-Politik der Region Hannover kritisiert haben. „Unsereins ist da ja sonst eher zurückhaltend“, sagt einer hinter vorgehaltener Hand. Der Beschluss, mit dem die drei Richter am 13. Senat in Lüneburg am Dienstagabend die nächtliche Ausgangssperre der Region auseinandergepflückt haben, ist aber alles andere als zurückhaltend. Es ist eine geradezu vernichtende Kritik an der Ausgangssperre – darüber hinaus nehmen die Richter die bisherige Corona-Politik von Regionspräsident Hauke Jagau (SPD) insgesamt aufs Korn. Lesen Sie auch Ausgangssperre in der Region Hannover: Wer dagegen verstoßen hat, muss kein Bußgeld zahlen Die Ausgangssperre der Region erfülle schon die Anforderungen des Infektionsschutzgesetzes nicht, beginnen die Lüneburger Richter. So ausgestaltet und begründet wie von der Region sei sie „keine notwendige Schutzmaßnahme“. Sie sei nur bedingt geeignet, nicht erforderlich, nicht angemessen – wer auch immer bei der Region die Begründung für das nächtliche Wegsperren von mehr als einer Million Menschen in Hannover und Umgebung geschrieben hat: Beim Oberverwaltungsgericht ist er oder sie damit krachend durchgefallen. Null Punkte im Examen. Lustloser Vortrag: Doch die Schelte für einen offenbar recht lustlosen Vortrag beim Oberverwaltungsgericht geht weiter: „Nicht ansatzweise nachvollziehbar“ habe die Region erklären können, welche Bemühungen sie denn bisher unternommen habe, um die bereits geltenden Kontaktbeschränkungen durchzusetzen. Die Juristen von Regionspräsident Hauke Jagau hätten nur „behauptet“, dass die Ausgangssperre nötig sei, weil die Menschen die bisherigen Beschränkungen einfach nicht einhalten und Kontakte einfach nicht reduzieren wollten. „Nicht annäherungsweise“ lassen sich dem Vortrag außerdem entnehmen, welche von der Region angeführten illegalen nächtlichen Zusammenkünfte im privaten Raum denn tatsächlich stattfänden. Damit haben die Richter die Regionsjuristen schon windelweich geprügelt. Dann kommt der juristische Todesstoß: „Nicht nachprüfbare Behauptungen“ reichten zur Rechtfertigung einer „derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre“ nicht aus. Insbesondere sei es nicht zielführend, „ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit fehlender Disziplin der Bevölkerung sowie verbotenen Feiern und Partys im privaten Raum zu erklären“. „Lediglich auf Verdacht“ – das geht nicht: Und noch immer haben die OVG-Richter nicht genug: „Nach mehr als einem Jahr Pandemiegeschehen“ habe es die Region Hannover auch nicht geschafft, die Infektionswege wissenschaftlich zu durchdringen. Nicht mehr rechtfertigen könne sie „in diesem fortgeschrittenen Stadium der Pandemie“ den Erlass so einschneidender Maßnahmen „lediglich auf Verdacht“. Strengt euch mehr an, heißt das. Niedersachsens oberste Verwaltungsrichter stellen also der Region in der Bekämpfung der Pandemie generell kein gutes Zeugnis aus. Ist das gerechtfertigt? Fragen und Antworten zum Urteil. Trifft die Kritik überhaupt die Richtigen? Sind nicht Bund und Land in erster Linie für die Bekämpfung der Pandemie verantwortlich? Der Eindruck könnte entstehen. Viel ist die Rede von nächtlichen Bund-Länder-Beschlüssen, der Corona-Verordnung des Landes Niedersachsen und seinem Krisenstab. In Hannover und dem Umland aber ist in der Pandemie die Regionsverwaltung für das Wohlergehen der knapp 1,2 Millionen Menschen verantwortlich. Das Infektionsschutzgesetz nimmt die Städte und Landkreise selbst in die Verantwortung – und stattet sie darum mit allen Mitteln aus, die das Infektionsschutzgesetz zur Bekämpfung der Pandemie bereitstellt. Ist es richtig, dass die Region die Ausgangssperre unzureichend begründet hat? Das scheint tatsächlich eher nicht so gut gelungen zu sein – das jedenfalls legt beispielsweise ein Vergleich mit der Begründung der Ausgangssperre des Landkreises Osnabrück nahe. Dort haben sich die Juristen deutlich mehr Mühe gegeben. Zum Beispiel setzen sie sich in ihrer Prognose auch damit auseinander, dass eine Ausgangsbeschränkung das „Ultima Ratio“, also das letzte mögliche Mittel staatlichen Handelns ist. Sie legen dar, dass es laut Auskunft der Polizeiinspektion Hinweise darauf gebe, dass zwischen 21 und 5 Uhr in und außerhalb des privaten Wohnbereichs Zusammenkünfte stattfinden und schlüsseln die betroffenen Bereiche auf. In der Begründung der Region heißt es dagegen nur: „Bei vergangenen Kontrollen durch die Ordnungsbehörden konnte ein erheblicher Anteil an Verstößen gegen die Kontaktbeschränkungen in den Abend- und Nachtstunden festgestellt werden, sodass durch diese Verfügung zumindest auch ein wesentlicher Anteil zur Kontaktreduzierung beigetragen wird.“ Hätte die Region Hannover überhaupt zu den von den Richtern geforderten „milderen Mitteln“ greifen können? Ja, ganz eindeutig. Das OVG hält die nächtliche Ausgangssperre auch deshalb für unverhältnismäßig, weil die Region gar nicht erst versucht habe, gleich effektive, aber für die Bürger weniger einschneidende Mittel einzusetzen. Das hätten zum Beispiel die nächtlichen Betretungsverbote für bekannte Partylocations sein können. Die Ermächtigung dazu bezieht die Region unmittelbar aus dem Infektionsschutzgesetz in Verbindung mit dem Niedersächsischen Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst. Danach hat die Region die unmittelbare Aufgabe, auf ihrem Gebiet die Pandemie zu bekämpfen, und kann dazu auf alle Instrumente des Infektionsschutzgesetzes zugreifen. In der Corona-Pandemie könnte sie also auch ohne Rückgriff auf die Landesverordnung eine nächtliche Ausgangssperre verhängen, Betretungsverbote für öffentliche Plätze erlassen, das Tragen von Masken anordnen – sie muss es nur rechtlich sauber machen. Gebrauch gemacht hat sie von ihrer Machtfülle bis zur Ausgangssperre indes kaum, obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz seit Wochen konstant über 100 liegt. Was konkret hat die Region zur Bekämpfung der Pandemie unternommen? Ein Regionssprecher zählt auf: „Die Maskenpflicht zum Beispiel in Fußgängerzonen, auf Märkten, am Nord- und Ostufer des Maschsees und an der Uferpromenade in Steinhude. Darüber hinaus hat die Region Hannover erst in der vergangenen Woche eine Maskenpflicht im Auto – bei Insassen aus verschiedenen Haushalten – und in Treppenhäusern von Wohnhäusern mit sechs oder mehr Wohneinheiten angeordnet.“ Darüber hinaus hat die Region auch das Gesundheitsamt personell verstärkt – und kommt doch mit der Kontaktnachverfolgung nicht mehr hinterher. Außerdem habe man mittlerweile mehr als 100 Schnelltestzentren in der gesamten Region installiert und die Region an die Luca-App zur Kontaktnachverfolgung angeschlossen, erklärt der Regionssprecher weiter. Sind die Richter nicht trotzdem zu streng? In Osnabrück oder Hamburg etwa haben die nächtlichen Ausgangssperren vor den Verwaltungsgerichten bisher Bestand. Dabei ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, was in Hannover so viel anders ist als dort. Eines fällt aber auf: Die Richter am Hamburger Verwaltungsgericht sind von vornherein nachsichtiger. Bei der Beurteilung komplexer Gefahrenlagen wie der Corona-Pandemie habe die Stadt Hamburg „bezüglich der Auswahl der geeigneten, erforderlichen und angemessenen Schutzmaßnahmen einen weiten Einschätzungsspielraum“, heißt es im Urteil des Verwaltungsgerichts. Die Ausgangssperre sei geeignet, weil sie dazu beitrage, Kontakte zu reduzieren. Ein milderes Mittel sei nicht ersichtlich, und angemessen sei die Ausgangssperre auch. Das Maß der Belastung des Einzelnen wiege im Verhältnis zu den Vorteilen für die Allgemeinheit nicht schwerer. Mit anderen Worten: Vor dem Verwaltungsgericht Hamburg wäre die Region wahrscheinlich mit ihrer Ausgangssperre durchgekommen. Das letzte Wort hat auch in Hamburg das Oberverwaltungsgericht. In Osnabrück hingegen weisen die Verwaltungsrichter in einer von mehreren Eilentscheidungen zwar darauf hin, dass im Hauptsacheverfahren zu klären sein wird, ob der Landkreis nicht hätte andere Maßnahmen ausschöpfen müssen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Würde die Ausgangsbeschränkung im Eilverfahren aber außer Vollzug gesetzt, „so könnten in der Zwischenzeit durch einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen schwerwiegende und erhebliche Beeinträchtigungen der dem staatlichen Schutzauftrag unterliegenden Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung sowie Schädigungen des überragenden Schutzgutes der menschlichen Gesundheit eintreten.“ Dem Antragssteller sei damit vorübergehend zuzumuten, etwa auf einen abendlichen Spaziergang oder sportliche Betätigung nach 21 Uhr zu verzichten. Anders als das OVG Lüneburg halten die Richter am Verwaltungsgericht Osnabrück eine Ausgangsbeschränkung auch für „grundsätzlich geeignet“ und führen dazu eine Studie an, die im Ergebnis dazu kommt, dass Ausgangsbeschränkungen zu den effektivsten Maßnahmen zur Einschränkung des Pandemiegeschehens gehörten. Die Richter und Richterinnen am OVG verweisen hingegen auf die „wenig ergiebige Studienlage zur Effektivität von Ausgangssperren“. Über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Osnabrück wird wohl letztlich auch das OVG zu befinden haben. Eine Beschwerde des Antragsstellers sei bereits angekündigt, teilte eine Gerichtssprecherin mit. Was sagt das Land zum OVG-Urteil? Eine Sprecherin der Landesregierung erklärte, das Land denke darüber nach, den Kommunen eine Handreichung zur Begründung der Ausgangsbeschränkungen zur Verfügung zu stellen. „Da soll zusammengetragen werden, was es bislang an wissenschaftlichen Studien zu Ausgangssperren und ihren Auswirkungen gibt.“ Gibt es weitere Reaktionen? Der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund reagierte betroffen. „Wir bedauern es sehr, dass es nicht gelungen ist, die Ausgangssperre in der Region Hannover wirksam anzuordnen. Um steigende Infektionszahlen in den Griff zu bekommen, kann die Ausgangssperre ein wirksames Mittel sein, aber dieser schwere Eingriff bedarf einer genauen Güterabwägung“, sagte Thorsten Bullerdiek, Sprecher des Gemeindebundes. Beim OVG ging die nächste Beschwerde aus dem Landkreis Celle ein. Dort hatte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom Dienstag den Eilantrag gegen die dortige Ausgangssperre abgelehnt. Von Karl Doeleke, Alina Stillahn und Michael B. Berger