Boehringer schließt Forschungsstandort Hannover

Der Medizin- und Impfstoffspezialist Boehringer verlässt Hannover. Erst 2012 hatte das größte forschende Pharmaunternehmen Deutschlands sein zunächst sehr umstrittenes Tierversuchslabor an der Bemeroder Straße in Kirchrode eröffnet. Dort sind aktuell mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt. Sie wurden am Donnerstag über das Aus informiert. Hinter der Entscheidung soll nach HAZ-Informationen eine geplante Neuausrichtung des Unternehmens stehen. Boehringer gibt Tierversuchslabor in Hannover auf: Eine offizielle Bestätigung war am Donnerstagabend nicht zu bekommen. Auch die Spitzen der Stadtverwaltung und der benachbarten Tierärztlichen Hochschule (TiHo) wollten sich nicht äußern. Offenbar ist für Freitag eine Information der Öffentlichkeit geplant. Lesen Sie auch: „Wie leben und sterben Tiere bei Boehringer, Herr Mundt?“ – ein Besuch in der Impfforschung Mit der Ansiedlung Boehringers war der Stadt und der TiHo 2012 ein echter Coup gelungen, sie galt als Vorzeigeprojekt im Verbund von Wissenschaft und Industrie. Das 1885 von Albert Boehringer in Ingelheim (Rheinland-Pfalz) gegründete Unternehmen suchte einen Standort für die Impfstoffforschung zunächst an Schweinen und Rindern. In Süddeutschland scheiterte eine Ansiedlung 2007 an Widerstand, weil sich Grüne und Christdemokraten gegen die Tierversuche verbündeten. In Hannover machte der damalige Oberbürgermeister und heutige Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) gemeinsam mit dem heute noch amtierenden TiHo-Präsidenten Gerhard Greif den Weg für die Ansiedlung frei. 2016 wurde die Forschungsgenehmigung auch auf Hühner und andere Tiere erweitert. Im Kern geht es darum, in der Massentierhaltung Impfstoffe präziser einsetzen zu können und schneller auf Infektionen reagieren zu können. Nähe zur TiHo war 2012 ausschlaggebend: Das Unternehmen hatte die Nähe zur hannoverschen TiHo gesucht, deren Ausbildung und Forschung weltweit anerkannt ist. Schnell bildete sich allerdings eine Protestfront aus Anliegern und Tierversuchsgegnern gegen die Ansiedlung. Drei Jahre lang wurde um die Pläne gerungen, zwischenzeitlich das Gelände sogar sechs Wochen lang besetzt. Einen Prozess um die Laborgenehmigung drohte Boehringer zu verlieren, daraufhin einigte man sich auf einen ungewöhnlichen Vertrag: Das Unternehmen ist zu einem unbefristeten Bürgerdialog verpflichtet, in dem es den Anwohnern dauerhaft einen Gutachter bezahlt und jährlich seine Forschungspläne sowie jede kleinste Panne offenlegen muss. Offiziellen Angaben zufolge soll Boehringer zwischen 55 und 61 Millionen Euro in das Hightechlabor investiert haben. Es ist aber ein offenes Geheimnis, dass die Gesamtinvestition spätestens seit der Erweiterung deutlich höher liegen dürfte. Seit 2015 war die Belegschaft kontinuierlich auf inzwischen mehr als 100 Mitarbeiter angewachsen, darunter zahlreiche Forscher aus Chemie und Pharmazie, Laboranten und Tierpfleger. Die erst vor drei Jahren errichteten Gebäude reichten nicht mehr aus, seitdem sind etliche Bürocontainer als Erweiterungsbauten auf dem fast 40.000 Quadratmeter großen Grundstück installiert. Tierversuchslabore hermetisch abgeriegelt: Herzstück des Europäischen Forschungszentrums für Tierimpfstoffe, wie der Name offiziell heißt, sind die Tierversuchslabore auf 3740 Quadratmetern. Dort werden jährlich etwa 2000 Versuchstiere in hermetisch abgeriegelten Hochsicherheitslaboratorien mit Impfstoffen und dann mit Erregern infiziert. Anschließend müssen sie in Lauge aufgelöst werden, um alle Erreger abzutöten. Immer wieder hat es Proteste von Tierversuchsgegnern vor dem Zufahrtstor gegeben, zuletzt im Februar. Den Tieren allerdings geht es – zumindest bis zu ihrer gezielten Erkrankung – besser als ihren Artgenossen in der Massentierhaltung. Sie haben viel Auslauf, Spielzeuge zur Beschäftigung und werden gelegentlich sogar mit Musik beschallt. Menschen aber erleben sie meist nur in Schutzkitteln und hinter Masken – es dürfen keine Keime in die Ställe getragen werden. Das Betreten der Tierräume ist nur nach dem Durchlaufen von Schleusen erlaubt. 2,7 Milliarden Euro Gewinn: Boehringer gilt in der Branche als gut geführtes und hochprofitables Unternehmen. Den mit Abstand größten Teil der Forschung und Entwicklung macht allerdings die Humanmedizin aus. In dieser Woche erst wurde Boehringer vom Institut für Management- und Wirtschaftsforschung als das innovativste deutsche Pharmaunternehmen ausgezeichnet. In der Liste der umsatzstärksten deutschen Familienunternehmen belegte es zuletzt Rang acht. 2019 konnten die Rheinhessen ihren Konzerngewinn von 2,1 auf 2,7 Milliarden Euro steigern. Dietrich Kröncke, als ehemaliger Manager des Arbeitgeberverbands einer der prominentesten Wortführer des Anliegerprotests, zeigte sich am Donnerstagabend überrascht von der Nachricht. Der Bürgerdialog sei stets transparent und fair gelaufen. „Für mich ist diese Ansiedlung ein Lehrstück, wie man gute Bürgerbeteiligung macht – indem das Unternehmen den Bürgern einen Gutachter bezahlen muss, der die Angaben des Unternehmens überprüft.“ Wie es mit dem Standort weitergeht, ist unklar. Möglicherweise hat die TiHo Interesse daran, die Forschungseinrichtung zu übernehmen. Präsident Gerhard Greif sagte zu einer entsprechenden Anfrage am Donnerstagabend aber nur: „Kein Kommentar.“ Lesen Sie auch Forschung: Wie leben und sterben die Tiere bei Boehringer, Herr Mundt? Tierversuche in Hannover: Tierschützer protestieren vor Boehringer Von Conrad von Meding