Corona-Folgen: „Eine Welle von Insolvenzen rollt auf Hannover zu“

Im Dezember 2020 hat es 18 Prozent mehr neue Insolvenzen gegeben als noch im November – und 2021 dürfte die Zahl der Firmen mit Liquiditätsproblemen noch einmal erheblich ansteigen. Denn aktuell brauchen überschuldete Unternehmen keine Insolvenzmeldung zu stellen: Der Bundesgesetzgeber hat die Pflicht dazu erneut ausgesetzt. Eine „Welle von Insolvenzen“ rolle an, warnt der hannoversche Insolvenzverwalter Jens Wilhelm. Mehr Insolvenzen infolge von Corona-Krise erwartet: Allein in der Reisebranche hat sich zwischen März und Oktober die sogenannte Außenstandsdauer, also die Zeitspanne, in der fällige Rechnungen bezahlt wurden, von 37 auf 72 Tage exakt verdoppelt. Im Beherbergungsgewerbe sank das Zahlungstempo nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei Creditreform um etwa 10 Prozent. „Für uns sind das wichtige Frühwarnindikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, der Leiter der Creditreform-Wirtschaftsforschung: „Wir beobachten sonst auch die Entwicklung der Insolvenzen sehr genau – aber weil der Gesetzgeber die Meldepflicht ausgesetzt hat, haben diese Zahlen keine Aussagekraft mehr.“ Lesen Sie auch: Kommentar: Corona wird Firmenleben kosten Insgesamt ist die Zahl der Firmeninsolvenzen in Deutschland noch niedrig. Das Statistische Bundesamt vermeldete am Montag, dass von Januar bis Oktober 2020 13.575 Unternehmen in Insolvenz gegangen sind, 15 Prozent weniger als im Vorjahr. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Selbstanzeigen bei Insolvenzverdacht erneut ausgesetzt: Allerdings war bis Jahresmitte die Pflicht zur Selbstanzeige von Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung ausgesetzt. Auch Gläubiger durften zwischenzeitlich keinen Insolvenzantrag gegen Firmen stellen, die ihren Verbindlichkeiten nicht nachkamen. Die Lockerungen wurden vorübergehend ausgesetzt, jetzt gelten sie im Januar wieder – und nun hat Justizministerin Christine Lambrecht in Aussicht gestellt, dass die Erleichterung möglicherweise noch einmal verlängert werden könnte. Creditreform-Ökonom Hantzsch hat dafür kein Verständnis. „Weil der Staat die versprochenen Corona-Hilfen nicht rechtzeitig auszahlt, will die Justizministerin den Marktmechanismus aushebeln zugunsten eines staatlich gelenkten Insolvenzverfahrens.“ Darunter drohe das Vertrauen innerhalb der Wirtschaft massiv zu leiden. „Politik hat Mitschuld“: Das Unternehmen von Insolvenzverwalter Wilhelm gehört zu den vier großen Kanzleien in Hannover, die sich mit der Restrukturierung von Firmen beschäftigen. Auch er sieht das politisch gewollte Aussetzen der Insolvenzmeldungen skeptisch. „Es führt dazu, dass Firmen am Wirtschaftsleben teilnehmen, die eigentlich längst Insolvenz hätten anmelden müssen.“ Viele Betriebschefs klammerten sich an die Hoffnung, dass es nach der Krise wieder bergauf gehen werde. „Das kann man ihnen persönlich nicht zum Vorwurf machen – aber besser wäre es, wenn sie sich um die Sanierung ihrer Firmen kümmerten“, sagt Wilhelm. Die Politik habe eine Mitschuld: „Sie trägt durch das ewige Hin und Her und durch das neuerliche Aussetzen der Insolvenzantragspflicht erheblich zur Unsicherheit bei.“ Lesen Sie auch Insolvenzen dürfen keine Wahlkampfmasse werden Pleite durch Corona: Diese Airlines meldeten im Jahr 2020 Insolvenz an Wilhelm sagt: „Es ist spürbar: Die Unternehmen, die jetzt zu uns kommen, hätten viel früher kommen müssen.“ Eine der Hauptursachen des Problems: „Die Insolvenz genießt immer noch einen schlechten Ruf.“ Dabei sei sie zunächst nur das Zeichen, dass Firmen sich für den Weg der Sanierung entschieden. Bringt das neue Restrukturierungsgesetz StaRUG Erleichterung? Wilhelm setzt Hoffnung in das neue Stabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG), das seit Jahresbeginn eine erleichterte Restrukturierung erlaubt – ohne dass Gerichte die Insolvenz anordnen. Es biete „eine Chance, dass die Wirtschaft ihre Scheu vor der Insolvenz ablegen“, hofft Wilhelm. Ob es auch den Firmen hilft, die aktuell die Insolvenz legal verzögern, muss sich zeigen. Von Conrad von Meding