Corona-Krise: Wie kommen Familien durch Herbst und Winter?

Corona zwingt uns allen neue Verhaltensweisen auf. Die HAZ-Redaktion hat Eltern aus fünf Familien zur Gesprächsrunde eingeladen – per Videokonferenz. Die Redakteurinnen Saskia Döhner und Bärbel Hilbig sitzen in getrennten Räumen vor ihren Laptops. Erschwerte Bedingungen, um Nähe herzustellen. Im Vor-Corona-Normalfall säßen wir alle gemeinsam an einem Tisch. Dennoch strahlen alle, als sich auch der Letzte fast pünktlich eingeloggt hat. Sein kleiner Sohn flitzt im Hintergrund durchs Bild. Redakteurin Bärbel Hilbig: Wir freuen uns sehr, Sie alle zu sehen. .... Cornelia Fisahn verschwindet kurz aus dem Bild und geht ihrem Sohn Tammo (4) hinterher. Sie sagt in die Runde: „Entschuldigung, er ist heute dabei, mein Mann arbeitet noch.“ In dieser Runde strahlen alle und winken Tammo zu. Im Lauf des Gesprächs tauchen immer wieder Kinder neben ihren Eltern auf. Die Infektionszahlen steigen leider rasant. Wissen Sie schon, wie Sie dieses Jahr Weihnachten feiern? Cornelia Fisahn: Normalerweise immer in großer Runde mit der Familie. Am ersten Weihnachtstag mit meinen Verwandten, am zweiten mit der Familie meines Mannes. Dieses Jahr geht das nicht. Meine Oma ist 98, sie wird von meiner Mutter gepflegt, die auch schon 68 ist. Meine Schwester hat Asthma und traut sich schon seit Monaten kaum aus dem Haus, mein Schwiegervater ist gesundheitlich eingeschränkt. Weihnachten werden wir wohl in ganz kleiner Runde feiern, nur zu dritt. Sina Denecke: Meine Familie lebt verstreut, wir kommen wahrscheinlich überhaupt nicht zueinander, meine Eltern leben in Österreich. Selbst wenn die Grenzen offen sein sollten, eine zweiwöchige Quarantäne kann sich niemand leisten. Sich einfach mal draußen auf einen Waldspaziergang treffen – das geht bei uns gar nicht. Und wie ist das bei Ihnen, Herr Blödorn? Gerald Blödorn: Weihnachten? Das ist noch weit weg, bis dahin sind es ja noch acht Wochen. Wahrscheinlich werden wir nicht in die Kirche gehen, dabei gehört der Kirchenbesuch bei uns eigentlich traditionell dazu. Wie wir das mit den Großeltern machen, wissen wir noch nicht, das entscheiden wir später. Alles machen wir momentan auf Sicht. Anne Jansen: Unsere Familie wohnt im Harz und im Emsland, drei von vier Großelternteilen haben Lungenprobleme, zwei sind besorgter als die anderen beiden. Ich mache heute dazu noch keine Pläne, sondern wir warten ab und entscheiden das kurzfristig. Julian Martitz: Ich will mal bewusst provozieren und etwas gegen den Strich reden. Vielleicht hat die Pandemie auch ihr Gutes, normalerweise muss man es Weihnachten immer allen Recht machen und sich zerreißen, trifft vielleicht auch Menschen, die man eigentlich gar nicht unbedingt sehen will. Unser Sohn hat fünf Großeltern und es ist durchaus einfacher, nicht alle während der Weihnachtstage zu besuchen. So hat man den ganzen Stress nicht, hat Zeit für sich und verbringt die Zeit nur mit der Kernfamilie. Sina Denecke: Wir sind auch Scheidungskinder, bei uns gibt es sogar sieben Großeltern. Aber wir haben gut reden, wir haben alle Partner und Kinder, aber es gibt ja auch die andere Seite. Was ist mit älteren Menschen? Die sind um die 80, sitzen vielleicht allein zu Hause und sind todtraurig, weil sie Weihnachten die Familie nicht sehen. Sie mögen zwar Risikopatienten sein, aber was ist, wenn sie bewusst das Risiko eingehen wollen, Kontakt zu haben? Treffen Sie Ihre eigenen Eltern und Großeltern denn noch? Gerald Blödorn: Also wir haben den Kontakt zu meiner Mutter im Frühling schon stark eingeschränkt. Sie lebt in einer Wohnanlage für Senioren, da wollen wir nichts hineintragen. Cornelia Fisahn: Wir haben uns auch draußen und mit Abstand getroffen. Das wird natürlich schwieriger, je kälter es wird. Ich habe schon ein mulmiges Gefühl, wenn wir so eng in der Küche zusammensitzen wie früher. Sina Denecke: Meine Kinder haben ihre Großeltern über Monate nicht gesehen, das ist schade, denn die Kinder machen, wenn sie so klein sind, doch so große Entwicklungsschritte. Unser Großer erkennt Oma und Opa zum Glück noch, als sie das letzte Mal weggefahren sind, haben die Kinder ganz doll geweint. Im Raum steht immer die Frage, wann wird es das nächste Treffen geben. Hat die Pandemie Sie und Ihre Kinder verändert, sie vielleicht ängstlicher gemacht? Anne Jansen: Wir sind nicht ängstlich, aber ich habe doch mittlerweile eine gehörige Portion Respekt, und wir halten uns an die AHA-Regeln. Gerald Blödorn: Angst habe ich nicht, aber ich habe gemerkt, dass ich mein Verhalten zum Teil geändert habe. Ich fahre nicht mehr mit den Bahnen, die sind mir in der aktuellen Situation zu voll. Ich fahre jetzt mehr Fahrrad und ich versuche, nicht so oft einkaufen zu gehen. Und ich meide Menschenansammlungen, das ist total schade, aber die Pandemie greift zunehmend in meinen Alltag ein. Cornelia Fisahn: Ich fahre auch keine Bahn mehr, sondern nehme das Fahrrad oder das Auto. Und enge Fahrstühle meide ich auch. Sina Denecke: Mir ist es wichtig, das Thema und die Angst so weit wie möglich von meinen Kindern fernzuhalten. Ich finde es ganz furchtbar, wenn ich sehe, dass Kinder auf dem Spielplatz zurückweichen, wenn sich andere ihnen nähern. Julian Martitz: Angst ist ein viel zu großes Wort, aber Irritationen in der Bevölkerung entstehen. Selbst Erwachsene können oft nicht reflektieren, wann es sinnvoll ist, eine Maske zu tragen, und wann nicht. Wie sollen das Kinder können? Gerald Blödorn: Wir reden in unserer Familie gern und viel, aber über Corona in Gegenwart unseres Sohnes von uns aus fast nicht mehr, denn keiner weiß, was das mit den Kindern macht, wenn sie alles hören. Man will doch so einen Kokon für das Kind, einen Schutzraum. Als Kita und Schule im Frühjahr geschlossen waren, haben viele Eltern ihren Urlaub aufgebraucht. Was machen Sie jetzt, falls Ihre Kinder wieder zu Hause bleiben? Anne Jansen: In der Schule unserer Kinder sind zwei Schüler in Quarantäne. Deshalb geht die Schule jetzt wieder ins Wechselmodell, wie die neue Verordnung es vorsieht. Unsere Kinder lernen zu Hause und das erst mal zwei Wochen lang. Mein Mann und ich sind beide berufstätig. Homeschooling und Schulschließungen treffen uns auf ganzer Linie. Jakob (8) und Tilda (6) tauchen hinter ihrer Mutter auf und winken in die Kamera. Sina Denecke: Unsere Kinder sind ein und vier Jahre als. Wir bibbern schon in der Erwartung, dass es die Kitas wieder trifft. Anne Jansen: Fürs Homeoffice habe ich einen zweiten Rechner von unserer Firma bekommen. Das ist natürlich Luxus, wenn die Schule im Wechselmodell ist. Aber das Problem bleibt: Ich arbeite und die Kinder sollen zugleich lernen. Ganz ehrlich: Da ist permanent ein Kind, das etwas will, egal, wie alt es ist. Wenn ich das Homelearning unterstütze, kostet das Zeit und Energie. Aber wenn die Kinder unbetreut bleiben, klappt das Lernen nicht gut. Gerald Blödorn: Unser Sohn war bereits zweimal in Quarantäne, weil es einen Corona-Fall in der Klasse gab. Obwohl wir Haus und Garten haben, war das mitunter schwer, weil auf Dauer die Abwechslung fehlt. Während ich zu Hause arbeite, können wir mit den Schulaufgaben ja nicht erst um 17 Uhr anfangen. Dann kann er sich nicht mehr konzentrieren. Da zerreiße ich mich schon und werde keinem Anspruch so richtig gerecht. Im Sommerurlaub waren wir so kaputt wie noch nie. An unserer Schule soll der Unterricht zu Hause und in der Klasse täglich wechseln, falls es wieder Corona-Fälle gibt. Was machen dann die vielen Menschen, die nicht ins Homeoffice können? Anne Jansen: Auch ich war im Sommer fertig mit der Welt, und das aus einer relativ komfortablen Zone heraus. Ich hatte ein permanent schlechtes Gewissen – den Kindern, dem Arbeitgeber und dem Partner gegenüber. Wenn es mir so geht, wie sieht es dann in anderen Familien aus, die mehr als nur das schultern müssen? Hinter Julian Martitz krabbelt sein zweijähriger Sohn Livian auf der Sofalehne. Julian Martitz: Wir sind ein durchaus alternativer Haushalt mit progressiven Ideen. Wir merken, dass uns vor dem Hintergrund eines veränderten Alltags plötzlich auch konservative Gedanken berechtigt erscheinen: Wäre es nicht einfacher, wenn einer den Job macht und der andere sich um die Kinder kümmert? Egal, ob er oder sie? Redakteurin Saskia Döhner: Ich hoffe, dass jetzt nicht alle Damen in der Runde sagen, sie wollen nicht mehr arbeiten. (Lachen und allgemeiner Widerspruch). Machen Politik und Behörden genug für Familien? Anne Jansen: Es muss Priorität haben, die Bildung aufrechtzuerhalten. Es ist wichtig für Kinder, für ihre emotionale und soziale Entwicklung, dass sie möglichst durchgehend in Kita und Schule sein können. Politiker sollten sich nicht hinter ihren Zuständigkeiten verstecken, sondern ressortübergreifend kreative Ideen entwickeln. Und dann schaut man, was davon umsetzbar ist. Cornelia Fisahn: Es ist gut, dass die Politik aus dem ersten Teil-Lockdown gelernt hat und Kitas und Schulen weiterlaufen. Gerald Blödorn: Die Politik kommt jetzt diesem Wunsch entgegen. Ich wünsche mir persönlich, dass das klappt. Aber wenn nun mal links und rechts von meinem Sohn Krankheitsfälle auftauchen, kann kein Unterricht stattfinden. Sina Denecke: Nach wie vor wird nicht sichergestellt, dass Kitas und Schulen offen bleiben. Wir haben noch keine kreativen Lösungen. Wenn Kinder Homeschooling machen, müssen wir guten digitalen Unterricht anbieten. Warum bekommen Lehrer keine verpflichtende Fortbildung? Warum kommen die Geräte für die Schüler nicht an? Schwierig finde ich auch die Quarantäne-Regelung. Wenn durch einen Coronafall eine Klasse in Quarantäne geht, muss die ganze Schule mit Hunderten Schülern ins Wechselmodell. Gerald Blödorn: Das hat auch mich sehr überrascht. Ein Schüler in der 5. Klasse ist Corona-positiv – und alle bis zum 13. Jahrgang sollen nur noch abwechselnd in die Schule kommen. Julian Martitz: Sind unsere Gedanken überhaupt weitsichtig? Menschen sind nicht dafür gemacht, exponentielles Wachstum zu verstehen. Sohn Livian taucht am unteren Bildrand auf und weint. Julian Martitz, der sein Tablet während des Gesprächs immer wieder durch die Wohnung trägt, unterbricht sich. Gerald Blödorn: Digitalunterricht ist wichtig, aber für die Grundschule wohl nicht zu empfehlen. Julian Martitz (entschuldigend): Wir müssen hier mal eben Essen organisieren, sonst geht die Welt unter. Was ich sagen wollte: Ich bin froh, wenn die Politik Berater mit größerer Weitsicht hat. Feiern Sie den Kindergeburtstag noch – oder erst im nächsten Jahr? Anne Jansen: Derzeit erlebe ich im Bekanntenkreis, dass die Feier verschoben oder nur ein Freund eingeladen wird. Cornelia Fisahn: Wir haben die besten Freunde unseres Sohns kurz nacheinander zum Gratulieren hier gehabt und am Nachmittag meine Eltern. Schlimmer war der Geburtstag meiner 98-jährigen Oma. Dieses Jahr durften sich gerade mal nur zehn Personen treffen. Das ist sonst ein Riesenfamilienfest mit ihren fünf Kindern, zehn Enkeln und zehn Urenkeln, die in ganz Deutschland verstreut sind. Und wer weiß, wie lange wir das noch machen können. Wie erleben Ihre Kinder die strengen Hygieneregeln in Kita und Schule? Anne Jansen: Das Händewaschen wird sehr akribisch betrieben, was ja in Ordnung ist. Aber die Hände meiner Kinder sind rau und rissig. Gerald Blödorn: Das Lüften alle 20 Minuten klappt sehr gut in der Grundschule meines Sohns. Mal sehen, wie es im Winter wird. Sina Denecke: Im Kindergarten unseres Großen hatten wir keinen einzigen Elternabend, obwohl das im Sommer im Freien möglich gewesen wäre. Deshalb haben wir auch keine gewählten Elternvertreter. Vieles aus dem ersten Lockdown hat sich unverändert gehalten. Es gibt keinen Morgenkreis, keine Vorschulgruppe. Das finde ich total schade. Cornelia Fisahn: Wenn wir rausgehen, ist unsere Frage jetzt immer: Maske haste? Mein Sohn sagt das auch schon. Singen in der Kita ist natürlich tabu. Ich bin im Elternbeirat und wir machen eine Saison weiter. Das ist eine ganz gute Lösung. Für Abstimmungen nutzen wir elektronische Medien, das funktioniert gut. Teil-Lockdown, mit Pech auch Quarantäne zu Hause: Was machen Sie mit den Kindern in diesen langen Zeiten? Gerald Blödorn: Spiele, Spiele, Spiele. Wir spielen viele Brettspiele wie „Siedler von Catan“. Julian Martitz: Wir würden gern „Siedler von Catan“ spielen, aber mit unserem Kleinen geht das ja noch nicht. Wir haben zwar pädagogische Vorsätze, aber jetzt geben wir unserem Zweieinhalbjährigen im Notfall das Tablet. Das verschafft Zeit, um eine E-Mail zu schreiben. Vorher hätte ich das definitiv verteufelt. Jetzt müssen wir diese Pille schlucken. Cornelia Fisahn: Wir haben jetzt auch ein Kinder-Tablet. Zwei Wochen Quarantäne würde ich nicht durchhalten. Sina Denecke: Das würde sehr schwer werden. Unsere beiden Jungs jagen wir acht Stunden draußen rum und sie rennen immer noch um den Abendbrottisch. Gerald Blödorn: Es treibt mich um, dass die Sportvereine zumachen. Kinder müssen sich austoben. Und das ist ohne die Vereine immens schwierig, wenn es nachmittags schon dunkel wird. Sina Denecke: Andere Bundesländer lassen den Vereinssport für Kinder offen. Anne Jansen: Schon im Sommer haben wir gemerkt, dass der Garten allein nicht ausreicht. Die Kinder brauchten Radtouren und Inliner, damit sie sich auspowern. Einige Branchen leiden stark unter der Corona-Krise. Machen Sie sich Sorgen um Job und Einkommen? Hat Ihre Arbeit sich verändert? Julian Martitz: Was ich gerade mache – mit der Kamera durch die Wohnung laufen, wäre vor einem Jahr nicht passiert. Cornelia Fisahn: Ich habe einen tollen Job und mit 20 Wochenstunden eigentlich ein ganz chilliges Leben. Die Arbeit ist explodiert, als es mit der Pandemie losging. Ich bin im Krisenmanagement unserer Behörde und bis abends beschäftigt, deshalb habe ich meine Stelle zeitweise aufgestockt. Mein Mann musste Vorlesungen halten, unser Kind war im Frühjahr deshalb zuerst in der Notbetreuung. Falls unser Sohn jetzt nur noch zwei Tage in der Woche betreut wird, weiß ich nicht, wie das gehen soll. Urlaub hätte ich noch, kann ihn aber gar nicht nehmen. Sina Denecke: Wenn die Einrichtungen geschlossen sind, machen mein Mann und ich Arbeit und Kinderbetreuung in Schichten. Und abends sitzen wir noch mal von 19 bis 22 oder 23 Uhr am Schreibtisch. Homeoffice plus Betreuung bedeutet für uns Megastress. Ich war zumindest bis Ende September in Kurzarbeit. Wir leben als Familie vom Verständnis der Kollegen, dass die Kinder in der Videokonferenz laut sind und wir Eltern nicht immer sofort verfügbar sind. Corona führt zu mehr Solidarität. Und das finde ich auch schön. Von Saskia Döhner und Bärbel Hilbig