Corona-Lockdown: Hannover erlebt einen Hunde-Boom

Mathilda macht das großartig. Sie stürmt los, als sie in einiger Entfernung einen anderen Hund zwischen den Bäumen der Eilenriede sieht, ein braunes gelocktes Wollwesen, aber dann ruft eines ihrer Herrchen ihren Namen – und Mathilda bremst und dreht sich um und kommt zurück. Großes Lob, Leckerlis, Streicheleinheiten. Sie darf wieder losflitzen, eine Weile toben Mathilda und das Wollwesen durch den Schnee, schließlich greift Jana Goldschmidt ein und lockt die kleine Hündin zu sich: „Wir müssen mal den Fokus auf was anderes legen, damit sie nicht überdreht.“ Mathilda folgt auch hier aufs Wort. Mathilda ist ein Puggle, ein Mix aus Mops und Beagle, fünf Monate alt. Sie gehört zum Haushalt von Jannis Vater und Tim Gabrowski aus Sehnde, der eine Versicherungskaufmann, der andere Friseur. Die beiden jungen Männer wünschten sich eigentlich schon immer einen Hund, aber Jannis Vater wollte das erst, wenn genug Zeit für das Tier sei, erzählt er, wenn er also von zu Hause aus arbeiten könne. Und nun – Corona, Lockdown, Homeoffice – „gab es keine Ausreden mehr“. Er lacht. Seit November ist der kleine Wirbelwind Mathilda bei ihnen. Und zügig haben sie einen Welpenkurs bei Jana Goldschmidt belegt, die in Hannover die Hundeschule Canes Carissimi betreibt (von der es auch einen Ableger in Peine gibt). Denn Hundeerziehung ist nicht unbedingt einfach. „Wir haben uns natürlich auch Videos im Internet angeschaut“, sagt Jannis Vater. Doch solche Videos gehen nicht auf den speziellen Charakter des eigenen Hundes ein und beantworten keine Nachfragen. „Es ist echt gut, wenn man jemanden vom Fach fragen kann“, sagt Tim Grabowski. Vorschriften variieren: Das, was die beiden Herrchen und ihre Hündin und Jana Goldschmidt an diesem Tag machen, ist aber kein Welpentraining, sondern ein Hundespaziergang zweier Haushalte, unter Beobachtung der Zeitung in gebührendem Abstand. Das liegt an der etwas seltsamen Regelung, dass Hundeschulen neuerdings für die Corona-Behörden keine Dienstleister mehr sind, sondern außerschulische Bildungsangebote. Und die sind (weitgehend) untersagt. Die Vorschriften variieren von Bundesland zu Bundesland, sie variieren auch innerhalb eines Landes in verschiedenen Städten, und Jana Goldschmidt weiß von Hundeschulen in einer Stadt in Niedersachsen, die arbeiten dürfen, und anderen in derselben Stadt, die nicht dürfen. Wir könnten den Nachmittag zu einem Individualsporttraining erklären, indem Jana Goldschmidt Mathilda die ersten Grundzüge beispielsweise des Dog Dancing beibringt, so was ist erlaubt. Und es scheint, als wäre Mathilda eine gute potenzielle Dog Dancerin, so wie sie ihre Herrchen umwuselt und mit der Leine einwickelt. Aber das wäre ja Wortklauberei, also bleiben wir beim Spaziergang. Hundetrainings sind derzeit notwendiger denn je. Denn in Deutschland steigt die Zahl der Lockdown-Hunde. Es gibt verschiedene Gründe dafür: Kinder haben zu wenig Spielkameraden, die Eltern geben ihrem Drängen nach einem Tier nach, auch weil sie selbst mehr zu Hause sind. Erwachsene leiden unter fehlenden Kontakten, also schaffen sie sich ein Lebewesen an, mit dem man kuscheln kann. 20 Prozent mehr Hunde: Der VDH, der Verband für das Deutsche Hundewesen, spricht bundesweit von einem Anstieg von 20 Prozent im Vergleich zu den zehn Millionen Hunden in deutschen Haushalten im Jahr 2019. Zuwachs auch in Hannover: Zu Beginn des Jahres 2020 waren nach Auskunft der Stadt 16.438 Hunde zur Hundesteuer angemeldet, derzeit sind es 17.085 Tiere, allein seit Juli 2020 wurde ein Plus von 542 Hunden registriert. Das sei für diesen kurzen Zeitraum „bemerkenswert viel“, sagt ein Stadtsprecher. Das Tierheim in Langenhagen spürt den Trend ebenfalls. Arvid Possekel vom Tierschutzverein für Hannover und Umgegend, der das Heim betreibt, berichtet, sie hätten normalerweise zwischen 80 und 110 Hunde in ihrer Obhut, jetzt seien es 50. Und man befürchte, dass in einem halben Jahr, nach dem Abflachen der Inzidenzkurven, wenn die Leute wieder ins Büro gingen, eine Welle von abzugebenden Hunden auf das Tierheim zurolle. Das bezieht sich nicht so sehr auf die Hunde, die das Heim selbst vermittelt hat, sondern auf die, die man bei Ebay-Kleinanzeigen bekommt: „Hunde, die in einer Ecke eines Schweinestalls geboren wurden und nur Beton und den Kofferraum gesehen haben, in dem sie nach Deutschland gebracht wurden, für 300 oder 400 Euro an Menschen verkauft, die keine Erfahrung mit Hunden haben.“ Possekel klingt grimmig. „In Osteuropa wird gerade produziert ohne Ende.“ Es gibt inzwischen hohe „Corona-Preise“. Betreuung gesichert: Tim Grabowski und Jannis Vater haben ihre Mathilda nicht im Internet, sondern bei einer Züchterin in Neustadt amm Rübenberge gekauft, und da wusste das Puggle-Mädchen schon, was Menschen, was Ziegen und was Meerschweinchen sind. Die Hundebetreuung war auch bereits gesichert, bevor das Tier bei den beiden in Sehnde ankam: Jannis Vater will auch künftig mindestens teilweise von zu Hause arbeiten, Tim Grabowski kann den Hund mit in den Friseursalon nehmen. Und notfalls wohnen Grabowskis Eltern um die Ecke. Jana Goldschmidt nutzt den kleinen Eilenriedespaziergang zu ein, zwei Übungen: In den Rillen der Rinde eines Baums werden Leckerlis versteckt, Mathilda muss von einem Herrchen zum anderen laufen, bevor sie sie rausknabbern darf. Impulskontrolle nennt man das. Und die Hundetrainerin zeigt, dass man dem Hund das Hochspringen an anderen Leuten abgewöhnt, indem man ihm eine Belohnung vor die Vorderpfoten legt, bevor er sich auf die Hinterpfoten erhebt. Das war aber alles nur Spaß, kein außerschulisches Bildungsangebot, das hat der Zeitungsmann aus der Ferne genau gesehen. Unter Hundefreunden kursiert derzeit ein Spruch: A dog is for life, not for lockdown. Ein Hund ist was für Leben, nicht nur für die Corona-Zeit. Jana Goldschmidt unterstreicht, dass ein Hund Geld kostet und Zeit und Aufmerksamkeit benötigt. Sie sehe im Moment oft Welpen, die nicht mal ausruhen dürften, die von ihren unerfahrenen Besitzern ständig überfordert würden, obwohl Ruhe zu lernen der erste Schritt der Hundeerziehung sein. Da würden „Knalltüten“ herangezogen, sagt die Hundetrainerin. Sie fürchtet, viele dieser unüberlegt angeschafften Hunde würden auch später keine souveränen Tiere werden. Bundesweit protestieren Hundeschulen zurzeit gegen ihre Einsortierung als außerschulische Bildungsangebote durch die Gesundheitsministerien. Schon während des ersten Lockdowns sei die Anzahl an Welpen und Hunden rasant gewachsen, berichtet etwa Kirsten Heitmüller von der Hundeschule Sarstedt. Bis dato habe sie den Besitzern auch helfen können, weil Hundetraining als Dienstleistung angesehen wurde. Nun aber werde ihre Arbeit in den Corona-Bestimmungen (und nur dort) als Bildungsangebot gewertet und sei verboten. Das sei unverständlich – bei Arbeit unter freiem Himmel, mit Abstand und Hygieneregeln und mit dokumentierten Teilnehmern. Teilweise würden Hundehalter von der einen Behörde zum Ablegen des Hundehalterführerscheins aufgefordert, während die andere Behörde unterbinde, dass sie das Nötige dafür lernen könnten. Die Hundeschule Hundetraining-Spurwechsel von Michael Kohlstedde aus Gehrden bittet inzwischen um das Unterschreiben von offenen Briefen an Ministerpräsident Stephan Weil. Gerade in Zeiten „sozialer Enthaltsamkeit“ seien Hunde stabilisierende Faktoren, die Menschen gesund und arbeitsfähig hielten. Und Onlinetrainings „funktionierten nicht für Hunde“, schreibt Kohlstedde. Lockdown und Homeoffice könnten eine Chance sein, um einen Hund gut im neuen Zuhause ankommen zu lassen, sagt Jana Goldschmidt. Aber wer danach seinen Hund acht Stunden am Tag alleinlassen wolle – „das ist auch tierschutzrelevant“ –, wer nicht die Geduld und das Geld aufbringe, die ein Hund benötige, solle die Anschaffung lieber sein lassen. Der Spaziergang ist zu Ende. Tim Grabowski und Jannis Vater setzen ihre Mathilda ins Auto. Die Hündin wirkt erschöpft und glücklich. „Sie wird sofort pennen, wenn wir losfahren“, sagt Grabowski. Das mit der nötigen Ruhe hat sie also auch schon gelernt. Von Bert Strebe