Geheilt, aber nicht gesund: Wie ein Hannoveranerin leidet, die ihre Mutter angesteckt hat

Unbedingt wollte Ashti Marben alles richtig machen, um das Virus fernzuhalten. Eine Maske trug sie nicht nur da, wo es Vorschrift war, auch draußen auf der Straße bedeckte sie Mund und Nase. Immer waren Desinfektionsmittel zur Hand. Weil ihre Sorge mehr noch ihrer 90 Jahre alten Mutter Chaton Michael galt, strichen die Christen, assyrische Kaldäer, die gewohnten Kirchgänge. Auch die Haushaltshilfe schickte sie weg, lieber putzte und spülte die Erzieherin nach ihrer Arbeit in zwei Wohnungen, als den einen falschen Kontakt zu riskieren. Und dann trug Ashti Marben, 56, das Virus selbst in sich und steckte ihre Mutter, diese zarte Person, mit Covid-19 an. Sie kann das nicht beweisen, aber sie weiß, dass sie die Einzige in ihrer Nähe war. Woher sonst hätte es kommen sollen, wenn nicht von ihr, infiziert vermutlich in der Kita? Jetzt ist die 90-Jährige, die sich vor ihrer Infektion noch selbst zu Hause versorgen konnte, eine kranke Frau, die es kaum allein aus dem Bett schafft. „Ich habe sie geschützt wie ein Kind“, sagt Ashti Marben leise am Telefon, „und jetzt liegt sie da, sie ist so blass, so klein und dünn. Weil ich sie angesteckt habe.“ Das schlechte Gewissen bleibt: Die Tochter kann kaum damit umgehen. Sie stockt, wenn sie davon erzählt, was sie als ihre Schuld empfindet. Das schlechte Gewissen ist immer da und wenn es einmal doch Ruhe geben sollte, meldet es sich zurück, wenn Ashti Marben ihre Mutter apathisch im Rollstuhl sitzen sieht. Chaton Michael gibt ihrer Tochter nicht die Schuld an dem Unglück, aber was macht das schon, wenn dieses Gefühl, verantwortlich zu sein, in ihr selbst steckt? Dabei hat die Krankheit die Tochter schwerer gezeichnet als ihre 90 Jahre alte Mutter. Es dauerte nur wenige Tage, bis zu einer ungewohnten Müdigkeit Husten und Fieber kamen und schnell danach diese beklemmende Atemnot. Auf der Intensivstation bekam sie ohne das lärmende Beatmungsgerät an ihrem Krankenbett nicht genug Luft zum Leben. Ashti Marben glaubte, sterben zu müssen, „jede Nacht dachte ich, es wäre meine letzte Nacht, es war grausam, grausam“. Ihre Mutter lag einige Stockwerke höher in derselben Klinik. Eine alte Irakerin mit Lungenentzündung, Analphabetin, die nicht gut Deutsch spricht, allein im Krankenbett, weil die Tochter selbst vom Virus getroffen war. Panikattacken in der Nacht: Noch im Sommer war Ashti Marben ein sportlicher Mensch. „Ich war doch so fit“, sagt sie, stundenlange Spaziergänge machten ihr Freude, zu Fuß von Hannover nach Hildesheim gehen war kein Problem. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sagten ihr die Ärzte, dass sie noch immer ansteckend sein könne. Sie hatte acht Kilogramm Gewicht verloren. Nachts wachte sie auf, stellte sich ans offene Schlafzimmerfenster, und wenn die Luft trotzdem nicht reichte, ging sie hinaus auf die Straße und atmete und atmete. Sie rief den Krankenwagen, wenn Panikattacken sie überwältigten im Gefühl, dass nicht genug Sauerstoff ihre Lungen füllte. Bis heute fällt ihr jeder Gang schwer. Ein Aufenthalt in der Reha-Klinik Bad Lippspringe war nur möglich, weil ihre Schwester aus dem Irak nach Hannover flog, um die Mutter zu betreuen. Vier Monate nach den ersten Symptomen sind Ashti Marben und Chaton Michael Ziffern in zwei Corona-Statistiken. Sie zählen zu den bislang mehr als 20.000 Infizierten in der Region Hannover, und sie werden zu den rund 17.000 Genesenen gerechnet. Gesund sind beide Frauen nicht. Vielleicht kommt Chaton Michael nie wieder auf die Beine. Und Ashti Marben ist so schwach, dass sie sich im Moment nicht vorstellen kann, wieder in einem Kindergarten zu arbeiten. Es gibt keine Statistik für Spätfolgen von Covid-19, weder für soziale noch körperliche. Ihr Wunsch ist eine gemeinsame Wohnung: Marben, die im Irak Lehrerin studierte und Anfang der 90er-Jahre vor Diktator Saddam Hussein nach Deutschland flüchtete, lebt wie ihre Mutter in einer sehr engen Wohnung. Der Flur ist so breit wie die Eingangstür, die Zimmer sind klein und spartanisch eingerichtet. Heiligenbilder hängen an Wänden. Dass beide Wohnungen auf demselben Hausflur gegenüber liegen, erleichtert die Pflege der 90-Jährigen nur ein wenig. Doch wie soll Ashti Marben ihre Mutter über die kniehoch gefliesten Kacheln ins Wannenbad bekommen? Es geht einfach nicht. Was ist, wenn sie nachts Hilferufe aus der Wohnung nebenan nicht hört? Noch hilft die Schwester, doch sie kann nicht ewig bleiben. Die Erzieherin sucht eine neue gemeinsame Wohnung. Zwei schwere Infektionen und ihre Folgen haben Ashti Marben in eine Lage gebracht, die sie nie für möglich gehalten hätte. Sie bittet darum, diese Sätze zu schreiben: „Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich Hilfe brauche. Vielleicht hat jemand eine Wohnung für uns.“ Es soll ein wenig leichter werden für sie und ihre Mutter. Lesen Sie auch Corona in der Region Hannover und Niedersachsen: So viele Infizierte gibt es Von Gunnar Menkens und Katrin Kutter