Hannover: Continental arbeitet nach langem Schweigen seine NS-Vergangenheit auf

Er war fast noch ein Kind, als man ihn nach Hannover verfrachtete. Wenige Monate vor Kriegsende kam Nachum Rotenberg aus Auschwitz zur Zwangsarbeit hierher, ins Continental-Werk in Stöcken. „Wir waren billige Arbeitskräfte, zu essen bekamen wir kaum etwas“, erinnert sich der 92-Jährige, der heute in Tel Aviv lebt. „Viele von uns, die giftige Dämpfe einatmeten, starben.“ Der Jude aus dem polnischen Lodz musste fegen und Gummi vom Fußboden kratzen. Schläge waren für die KZ-Häftlinge bei Continental an der Tagesordnung. „Ein Mann namens Hans prügelte uns immer mit einem Schlauch, in dem Draht steckte, und schrie: ,Beweg dich!‘“ Als die Amerikaner Nachum Rotenberg befreiten, wog er noch 28 Kilogramm. Sein Bruder und sein Cousin starben in Hannover, sie sind hier begraben. Lesen Sie auch: Auschwitz-Überlebender aus Hannover: „Habe jede Nacht die Bilder vor Augen“ Aufarbeitung kommt spät: Lange hat sich Continental vor einer Aufarbeitung der eigenen Geschichte gedrückt. „Historikern wurde mit fadenscheinigen Begründungen der Zugang zum Archiv verwehrt“, sagt Horst Dralle vom Arbeitskreis KZ Limmer. Noch 1996 beschönigte eine Firmenchronik den Umgang mit Zwangsarbeitern. Als Nachum Rotenberg das Unternehmen vor fünf Jahren mit einigen Leidensgefährten besuchte, zeigten sich Conti-Vertreter eher reserviert. „Um Entschuldigung hat uns da niemand gebeten“, sagt Rotenberg. Spät hat der Geschichtsprofessor Paul Erker jetzt im Auftrag des Unternehmens in fast vierjähriger Arbeit eine groß angelegte Studie erstellt. „Zulieferer für Hitlers Krieg – Der Continental-Konzern in der NS-Zeit“ ist 867 Seiten stark – und zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild des Unternehmens. „Dunkelstes Kapitel unserer Unternehmensgeschichte“: Man wolle sich dem „dunkelsten Kapitel unserer Unternehmensgeschichte“ stellen, sagte der Vorstandsvorsitzende Elmar Degenhart bei der Präsentation der Studie. Die damalige Firmenleitung habe sich opportunistisch mit den Verhältnissen arrangiert: „Wegen Continental haben damals viele Menschen leiden und sogar sterben müssen“, sagte er mit Blick auf den Zwangsarbeitereinsatz. Zum 150-jährigen Firmenjubiläum im Herbst 2021 soll das Firmenarchiv für Forscher zugänglich gemacht werden, sagt Unternehmensarchivar Nils Fehlhaber, der seit 2016 rund 1000 Regalmeter mit Dokumenten aufgearbeitet hat. Seit dem Frühjahr 1944 spannte Conti der Studie zufolge in Hannover KZ-Häftlinge wie Nachum Rotenberg für die Produktion ein. Für Hunderte weibliche Häftlinge aus Ravensbrück wurde ein Barackenlager am Werk Limmer errichtet. Eine französische KZ-Insassin berichtete später über die Gasmaskenproduktion dort: „Die Luft in der Abteilung war nicht zu atmen: Dünste von Benzin, Gummi, die Luft auf 35 Grad.“ Dazu kamen Misshandlungen der Aufseherinnen, die Verpflegung war katastrophal. „Wir sind zu Skeletten abgemagert, viele von uns leiden an unerklärlichen Fieberanfällen“, schrieb eine Gefangene. Ein Schreckensregime der SS: Anfang September 1944 kamen auch männliche KZ-Häftlinge nach Hannover, die aus dem Getto Lodz stammten und in Auschwitz von der SS zu Arbeitseinsätzen angeboten wurden. Conti schickte eigens einen Mitarbeiter nach Auschwitz, um die Arbeitsfähigkeit der dort ausgewählten Häftlinge zu inspizieren. Untergebracht wurden die Männer in einem Lager in Stöcken, das mit Stacheldraht und Wachtürmen umgeben war. Die Leitung hatte der ehemalige Fußball-Nationalspieler und SS-Mann Otto Fritz Harder, der mit seiner Wachmannschaft ein Schreckensregime führte. Später wurden die Gefangenen ins KZ Ahlem gebracht, wo sie in der Asphaltgrube arbeiten mussten; Hunderte starben dort. Lesen Sie auch: Befreiung des KZ Ahlem: „Die Häftlinge sahen aus wie Skelette“ Die Conti-Spitze hatte die Machtübernahme der Nazis 1933 euphorisch gefeiert. Bald gaben sich NS-Funktionäre bei Werksbesichtigungen die Klinke in die Hand, jüdische Mitarbeiter wurden aus dem Unternehmen gedrängt. „Continental wurde zum NS-Musterbetrieb“, sagt Historiker Erker. Schmuck zu Hitlers Geburtstag: Conti-Chef Fritz Könecke bejubelte den „Anschluss“ Österreichs als „geschichtliche Tat des Führers“. Zu Hitlers Geburtstag wurde das Conti-Gebäude weihevoll geschmückt, das Unternehmen durfte sogar die Reifen für den „Führer-Wagen“ liefern. Die Geschäfte liefen gut, die Belegschaft wuchs in der NS-Zeit. Allein im Werk Limmer verdoppelte sich die Zahl der Beschäftigten zwischen 1933 und 1938 auf 4105 Mitarbeiter. Conti zahlte gute Löhne. Der Umsatz stieg von 72,5 Millionen Reichsmark im Jahr 1932 auf mehr als 242 Millionen im Jahr 1939. Im Krieg stieg die Firma verstärkt in die Rüstungsproduktion ein. Conti lieferte angeblich schusssichere Reifen für die Wehrmacht, Conti-Ingenieure saßen bei Neuentwicklungen für die Panzertruppe mit am Tisch. Im Jahr 1943 gingen 80 Prozent der Produktion an die Wehrmacht. Rund 10 000 Zwangsarbeiter: Schon bevor die KZ-Häftlinge kamen, setzte Conti Zwangsarbeiter ein. Im Jahr 1943 mussten 5449 von ihnen für das Unternehmen schuften, bei einer Gesamtbelegschaft von gut 16.000 Mitarbeitern. Die Fluktuation unter ihnen war groß; Erker schätzt ihre Gesamtzahl auf rund 10.000. Viele stammten aus Frankreich, andere aus Polen oder Russland. Ihre Verpflegung war schlecht, untergebracht waren sie in Baracken. Dutzende starben an Tuberkulose oder Lungenentzündung. Ein Zeitzeuge berichtete später, „„dass die Ausländer infolge ihrer Entkräftung weinend zusammengebrochen“ seien. Die Unternehmensleitung, so urteilt Historiker Erker, habe Gewalt, Unrecht und Ausbeutung nichts entgegengesetzt. Um die Leistung seiner Arbeiter zu steigern, habe sich Conti-Chef Könecke zum „willfährigen Exekutor der vielfältigen Maßnahmen des NS-Regimes“ gemacht. Überlebende des KZ Ahlem protestierten nach dem Krieg bei den Briten dagegen, Könecke wieder als Conti-Chef einzusetzen. Dieser machte dann anderswo Karriere. Er wurde Vorstandsvorsitzender bei Daimler-Benz. Nachgefragt bei Ariane Reinhart: Im HAZ-Interview äußert sich Ariane Reinhart, Personalvorstand bei Continental, zur Studie. Was haben Sie persönlich aus der Studie zu Continental in der NS-Zeit gelernt? Die Lektüre hat mich sehr berührt. Sie dokumentiert erschütternde Schicksale, etwa das von zwei jüdischen Prokuristen, die lange im Unternehmen gehalten, aber letztlich doch entlassen wurden. Glücklicherweise konnten sie emigrieren. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Studie? Continental war lange ein liberales und weltoffenes Unternehmen. Dann wurde die Unternehmenskultur auch von innen heraus binnen weniger Jahre deformiert. Wir müssen unsere Unternehmenskultur ständig überprüfen und uns im Rahmen einer gesunden Erinnerungskultur der Vergangenheit stellen. Es darf in Unternehmen keinen Raum für Rassismus und Antisemitismus geben. Was unternehmen Sie konkret dafür? Wir haben das Programm „Verantwortung und Zukunft“ ins Leben gerufen. Seit 2016 absolvieren unsere Auszubildenden und Führungskräfte Weiterbildungen in der Gedenkstätte Ahlem. Wir haben nun auch das Siegmund-Seligmann-Stipendium geschaffen, um Forschungen zur Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit zu fördern. Seit 1999 haben wir einen zweistelligen Millionenbetrag in die Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern eingezahlt. Darüber hinaus werden wir jetzt eine Gedenktafel mit den Namen der Continental-Zwangsarbeiter installieren. Es gilt, aus der Vergangenheit zu lernen. Lesen Sie auch Wie Bahlsen mit der SS kooperierte Von Simon Benne