Hannover: Linden wurde vor 100 Jahren eingemeindet

In Berlin herrschte der Kaiser, und in Verdun tobte eine mörderische Schlacht, als sich an einem Donnerstag im Herbst des Jahres 1916 der Lindener Ingenieur Wilhelm Wolperding auf den Weg zum Standesamt machte, um anzuzeigen, dass „zu Linden in seiner Wohnung am einundzwanzigsten November des Jahres tausend neunhundert sechzehn“ seine Tochter Margarete geboren worden war. „Ich habe mein ganzes Leben lang in Linden gelebt“, sagt diese Tochter 103 Jahre später, „für mich ist hier meine Heimat.“ Wie gemalt sieht die alte Dame aus, wenn sie in ihrem Sessel im Godehardistift sitzt. Sie ist eine der Letzten ihrer Art: Früher galt es als ausgemacht, dass ein echter Lindener nur jemand war, der vor der Eingemeindung der einst selbstständigen Stadt nach Hannover dort geboren worden war – also vor dem 1. Januar 1920. Geburtsort: Linden: Rund 120 Menschen leben heute in der Landeshauptstadt, die vor jenem Datum zur Welt kamen. Doch nur bei einer Handvoll von ihnen dürfte, wie bei Margarete Rothert, „Linden“ als Geburtsort in der Geburtsurkunde stehen. Wie viele dieser hochbetagten letzten Lindener es weltweit noch gibt, weiß niemand, statistisch werden sie nirgends erfasst. „Bei Hannoveranern war Linden damals etwas verrufen“, erzählt die 103-Jährige mit einem Schmunzeln. Tatsächlich sträubte sich Hannover lange gegen die Eingemeindung der benachbarten Industriestadt. Hannovers bürgerliche Honoratioren fürchteten, dass die Hochzeit mit der armen Braut Linden teuer werden würde – und außerdem war das rote Arbeiterquartier eine Hochburg der SPD. Erst als nach der Revolution von 1918 der sozialdemokratische Oberbürgermeister Robert Leinert im hannoverschen Rathaus den Ton angab, stimmte die Stadt der Eingemeindung Lindens zu. Seit 100 Jahren im selben Haus: „Unsere Nachbarn waren fast alle Sozialdemokraten, und ein paar Kommunisten gab es auch“, sagt Hildegard Bewer. Auch sie zählt zum exklusiven Kreis der letzten Lindener. Am 8. November 1919, wenige Wochen vor der Eingemeindung, kam sie hier zur Welt. „Es gibt nicht mehr viele von uns“, sagt sie lächelnd. Zwar lebten auch noch zwei Schulfreundinnen von ihr, sagt sie. „Aber die sind erst im März und im Juni 1920 geboren – das sind schon Hannoveranerinnen.“ Bis heute lebt Hildegard Bewer in dem roten Backsteinbau, in dem sie vor mehr als 100 Jahren zur Welt kam. Während der Inflation von 1923 hat sie hier Schiffchen aus wertlosen Geldscheinen gefaltet, und in den Bombennächten hat sie hier im Keller gesessen. Ein Lindener Leben. „In meiner Kindheit war die Toilette aber noch auf halber Treppe“, sagt sie, „und zum Baden stellten wir eine Zinkwanne in die Küche.“ Unten im Haus war damals noch eine Schlachterei, in der die Arbeiter sich morgens Wurstenden für ihren Kanten Brot kauften. „Überhaupt gab es Schlachter und Bäcker an jeder Ecke“, sagt die 100-Jährige. Die Spinnerei, die Brauerei, die Bettfedernfabrik – Linden war ein Ort harter Arbeit. Ein raues Idyll. „Die Arbeiter hielten fest zusammen. Viele hatten Schrebergärten, und in den Höfen wurde oft gefeiert“, sagt Hildegard Bewer. Ihr eigener Vater war Straßenbahnfahrer. Lokomotiven von Hanomag: Der Vater der drei Jahre älteren Margarete Rothert war Ingenieur bei der Hanomag. „Dort wurden damals ja noch Lokomotiven gebaut“, sagt sie. Die Produktion von Kleinwagen lief erst in den Zwanzigern an. „Als ich Kind war, gab es kaum Autos in Linden, man transportierte viel mit Pferd und Wagen“, sagt die 103-Jährige. „Dafür konnten wir auf der Straße ungestört Pindopp schlagen.“ Wenn sie damals an der Hand ihrer Mutter einkaufen ging, schaufelte der Kaufmann Zucker oder Kaffeebohnen aus einer Schublade in spitze Tüten. „Heringe holte er aus einem großen Fass – Probleme mit Plastikmüll hatten wir nicht“, sagt sie. Auf ihrer Kommode stehen alte Fotos: Ihr Mann Heinrich, der noch in den letzten Wochen des Krieges fiel, und ihr Sohn Gerhard, der 2011 im Alter von 68 Jahren starb. In einem Album verwahrt Margarete Rothert Bilder aus ihrer Kindheit: Ihre Eltern beim Sonntagsausflug, ihre Cousins in Matrosenanzügen. Ihr Vater machte viele Aufnahmen mit fotografischen Platten. Seither hat sich viel verändert: „Ein Arbeiterviertel ist Linden heute nicht mehr, die alten Firmen gibt es ja nicht mehr“, sagt sie, „aber Linden unterscheidet sich doch immer noch von Kleefeld oder Hainholz.“ Nicht, dass Menschen wie sie sich für etwas Besseres hielten: „Aber ich bin schon ein bisschen stolz darauf, Lindenerin zu sein“, sagt sie. Einen Lindener Separatismus hat es nach 1920 nicht gegeben. Die Menschen hier profitierten von der Vereinigung mit der großen Schwester. Es pendelten so viele Lindener zur Arbeit nach Hannover, dass man Linden liebevoll als „Arbeiterwohnsitzgemeinde“ bespöttelte. Doch das Bewusstsein, dass Linden ein besonderer Teil der Stadt ist, hat sich bis heute gehalten – ebenso wie eine stille lokalpatriotische Verbundenheit mit dem Quartier. „Ich bleibe in Linden, solange es geht“, sagt die 100-jährige Hildegard Bewer: „Ich ziehe hier nicht mehr weg.“ Lesen Sie auch: Vor 100 Jahren: Wie Linden zu Hannover kam Im Jahr 1969 starben in Linden zwölf Menschen bei der Explosion eines Munitionswaggons. Linden erfindet sich immer wieder neu – ein Spaziergang durch einen besonderen Stadtteil. Quiz: Wie gut kennen Sie sich mit Linden aus? Von Simon Benne

Hannover: Linden wurde vor 100 Jahren eingemeindet - Besuch bei letzten Lindenern