RAF-Terroristen im Hungerstreik: Als die MHH Geschichte schrieb

Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) glich einer Festung. Panzerwagen standen auf den Parkplätzen, Bundesgrenzschützer mit Maschinenpistolen patrouillierten auf dem Areal. Rund 1100 Beamte waren im Einsatz, um das weitläufige, unübersichtliche Gelände vor Anschlägen durch Terroristen zu schützen. „Wenn’s gegangen wäre, hätten die sogar ein U-Boot eingesetzt“, witzelte ein Passant angesichts des Großaufgebots von Sicherheitskräften. „Die Behandlung eines komatösen Hungerstreikenden der RAF in einer Großklinik war schon eine polizeiliche Herausforderung“, sagt Heiko Stoff. Der Medizinhistoriker, der an der MHH tägig ist, hat für sein Buch „Die Komamethode“ (Kadmos Verlag, 435 Seiten, 29,80 Euro) jetzt akribisch rekonstruiert, was im Februar 1985 an der Hochschule geschah. Die Ereignisse, die äußerlich an den Großeinsatz bei der Behandlung des vermeintlichen Mafiabosses Igor K. in der MHH Anfang 2020 erinnern, markieren für Stoff einen Wendepunkt in einem düsteren Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. „Das war der Anfang vom Ende der RAF“, sagt Stoff. „Hau ab, du blöde Sau!“: Im Winter 1984 waren mehrere Häftlinge der linksterroristischen Roten Armee Fraktion (RAF) in den Hungerstreik getreten, unter anderem, um bessere Haftbedingungen zu erpressen. Einer von ihnen war der 33-jährige Knut Folkerts. Dieser hatte 1977 in den Niederlanden einen Polizisten erschossen und war nach der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Solche Hungerstreiks stellten die Behörden vor medizinische, rechtliche und ethische Probleme: Darf man brutale Zwangsernährung als staatliche Fürsorgemaßnahme durchsetzen? Oder endet die Pflicht, Leben zu schützen, am individuellen Selbstbestimmungsrecht des Patienten? Der Tod des RAF-Terroristen Holger Meins, der 1974 im Hungerstreik gestorben war, hatte heftige Debatten und neue Terroranschläge nach sich gezogen. Als der MHH-Oberarzt Gerhard Walter Sybrecht damals zum ersten Mal in die JVA Celle I kam, in der Folkerts und andere RAF-Terroristen saßen, empfingen diese ihn feindselig: „Hau ab, du blöde Sau!“ Der Mediziner, damals 41 Jahre alt, nahm die Häftlinge als „kaputte Typen“ wahr, die nach Qualm stanken. Die Terroristen sahen in Ärzten vor allem Vertreter des „Schweinesystems“ – Büttel des Staates, die ihren Hungerstreik nur torpedieren wollten. Deckname: Peter Schnabel: Dennoch übernahm Sybrecht die Behandlung. Der bis aufs Skelett abgemagerte Folkerts verlor am 29. Januar 1985 im Hochsicherheitstrakt in Celle das Bewusstsein. Er wurde in die schon von Panzerspähwagen umstellte MHH gebracht. Zehn Tage lang blieb er unter dem Decknamen Peter Schnabel in einem abgeriegelten Raum auf Station 34 c, wo Sybrecht ihn intensivmedizinisch behandelte. „Über das, was dort geschah, erzählen beide bis heute höchst unterschiedliche Versionen“, sagt Historiker Heiko Stoff. Bei seinen Recherchen für das Buch besuchte der Autor nicht nur Sybrecht, der noch immer bei Hannover wohnt. Er traf sich auch mit Folkerts, der 1995 aus der Haft entlassen wurde und heute in Hamburg-St. Pauli lebt, und aß mit ihm Erdbeeren aus dessen Garten. Lesen Sie auch Terroristen, Staatsmänner, Schauspieler: Wer schon alles in Hannovers Kliniken behandelt wurde Sicher ist, dass der Mediziner damals das Leben des Terroristen rettete. Rigide Methoden wie die Zwangsernährung lehnte Sybrecht ab – und setzte stattdessen auf die „Komamethode“. „Dabei wird der Patient, der die Behandlung ablehnt, erst dann medizinisch versorgt, wenn er das Bewusstsein verliert und ohne freien Willen ist“, sagt Stoff. Tricks auf Station 34 c: Sybrecht flankierte diese Methode laut Stoff durch diverse Tricks: Während er den ausgemergelten Folkerts mit Infusionen und Vitaminen wieder aufpäppelte, schottete er seinen Patienten konsequent ab – auch weil er fürchtete, Anwälte oder Sympathisanten könnten Folkerts dazu bewegen, den Hungerstreik bis zum vermeintlichen Märtyrertod fortzusetzen. Dem Mediziner gelang es offenbar, so viel Vertrauen zu Folkerts aufzubauen, dass dieser der Behandlung zustimmte, als er wieder bei Bewusstsein war. Sybrecht betont, dass er den freien Willen Folkerts dabei immer berücksichtigt habe. Folkerts prangerte die Komamethode später als besonders perfides Verfahren des Staates an, seinen Willen zu untergraben. Allerdings stand er auch unter Rechtfertigungsdruck: Er musste fürchten, dass mancher aus der linken Szene ihm sein Überleben als Verrat vorwerfen würde. Die MHH befand sich derweil im Ausnahmezustand: In der Telefonzentrale gingen anonyme Bombendrohungen ein. Die autonome Szene prangerte den „Aufmarsch des Militärapparates“ an, die Grünen forderten im Landtag ein Ende des „Belagerungszustandes“. Patienten beklagten die massiven Belastungen, welche die Rettung des Terroristenlebens mit sich brachte, und auch viele Ärzte wurden zunehmend unruhig. RAF verlor ihren Gegner: Auf Station 34 c entwickelte sich unterdessen ein komplexes Verhältnis zwischen dem Mediziner und dem Häftling. „Folkerts nahm die Rolle als Patient an“, sagt Historiker Stoff, „er rückte von seiner Totalverweigerung ab.“ Bis dahin hatten die hungerstreikenden RAF-Terroristen ihren Körper immer als Waffe im Krieg gegen Staat und Ärzte betrachtet, die mit Zwangsernährung ihren Willen brechen wollten. Sich selbst sahen sie nicht als Patienten, sondern als militante Kämpfer. In diesem rigorosen Freund-Feind-Denken gab es keine Kompromisse. Diese kriegerische Militanz in den Reihen der RAF bröckelte nun. Ihr Hungerstreik war gescheitert, Folkerts war bis an die Grenze des Todes gegangen – und hatte doch überlebt, dank einer vergleichsweise sanften Therapie. „Das war ein Wendepunkt“, urteilt Historiker Stoff. „Mit der Komamethode verlor die RAF ihren imaginierten Gegner, den faschistischen Staat.“ So gesehen fand sich in der schwer bewachten MHH eine medizinische Lösung für einen politischen Konflikt; eine Medizin, die die Militanz der Terroristen milderte und zumindest einige von ihnen skeptisch machte. Es sollte aber noch 13 Jahre dauern, bis die Gruppe in einem letzten pathetischen Kommuniqué ihre Selbstauflösung verkündete: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“ Von Simon Benne

Hannover: RAF-Terrorist im Hungerstreik - als die MHH Geschichte schrieb