Hannover: Schöffen und Schöffinnen erzählen von ihrer Tätigkeit bei Gericht

Als im Oktober 2018 der gelbe Brief vom Amtsgericht Hannover kam, hat sich Anja Greeske erst einmal erschrocken. Post vom Gericht bedeutet selten Gutes. Doch in ihrem Fall hieß der Brief keinen Ärger, sondern den Beginn eines neuen Ehrenamtes – dem Schöffenamt. Für die Wahlperiode 2019 bis 2023 wurde sie eine ehrenamtliche Richterin in Strafsachen am Amtsgericht Hannover. Angaben des niedersächsischen Justizministeriums zufolge gibt es in Niedersachsen über 6000 Haupt- und Hilfsschöffen. Sie wirken in Strafverfahren an Amts- und Landgerichten neben den Berufsrichtern und -richterinnen bei allen wichtigen Entscheidungen in der Hauptverhandlung mit – und können bei der Urteilsfindung sogar die Hauptamtlichen überstimmen. Sie benötigen keine besonderen Rechtskenntnisse und sollen aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Manche bewerben sich um das Amt, manche werden für die Vorschlagslisten ausgewählt. Dann dürfen sie das Amt nur noch aus wichtigem Grund ablehnen. „Man muss auch ein bisschen schauen, wie man rüberkommt“: Anja Greeske hat sich freiwillig gemeldet. Eine Zeitungsanzeige brachte sie auf die Idee. 2013 hat es nicht geklappt, aber 2018 hatte sie Glück. Mit der Strafjustiz war sie bis dahin noch nie in Berührung gekommen, sie hatte sich auch nie eine Verhandlung angeschaut. „Man weiß es ja wirklich nicht, wie es läuft“, sagt sie. Zur ersten Verhandlung sei sie dann vor Nervosität viel zu früh gekommen. Im Richterzimmer werden die Schöffinnen und Schöffen wie Greeske es ausdrückt „grob abgeholt“. Das heißt, sie kennen die Akten nicht und erfahren erst am Tag der Verhandlung, um was es eigentlich geht. Und das sind meistens keine Kleinigkeiten. Das Schöffengericht am Amtsgericht ist erst bei Verbrechen mit einer Straferwartung von bis zu vier Jahren und bei Vergehen ab einer Straferwartung von über zwei Jahren zuständig. „Häufig geht es bei den Verhandlungen um Drogendelikte, aber auch um Körperverletzung oder räuberischen Diebstahl“, zählt Anja Greeske auf. Auch als Laie muss sie Distanz wahren. Sonst steht schnell der Vorwurf der Befangenheit im Raum. „Man muss auch ein bisschen schauen, wie man rüberkommt“, sagt sie. Manches kann man nicht so leicht vergessen: Trotzdem, manche Ereignisse bei Gericht, die nehme sie schon mit nach Hause. Besonders berührt habe sie der Fall einer drogenabhängigen Mutter, die, nachdem sie nach langer Zeit wieder Kontakt zu ihrer Tochter aufbauen konnte, wieder in den Entzug musste. Schöffen und Schöffinnen kriegen auch die Alltäglichkeit der Justiz mit, die Verfahren, die nicht spektakulär sind und die nicht in der Zeitung stehen, hinter dem aber immer noch ein Schicksal steht. „Niemand wird kriminell geboren“, sagt Greeske. „Die meisten Fälle sind die, die hier auf der Straße irgendwo passieren“, sagt auch Dirk Timmermann. So wie im Fernsehen, wo es immer eine überraschende Wendung gibt oder ein Zeuge spontan in den Saal stürmt, gestalte sich ein Strafverfahren nicht. „Ehrlicherweise muss ich sagen, so spannend ist das in der Realität nicht.“ Timmermann ist nach eigenen Angaben schon lange dabei: zwei Amtsperioden als Hilfsschöffe am Landgericht, nun als Hauptschöffe am Amtsgericht. Manchmal steht bei Gericht auch die lange Verfahrensdauer im Weg. Bei den Berufungsverfahren am Landgericht liege die Tat meist schon lange zurück, die Zeugen könnten sich oft nicht mehr genau erinnern, erzählt er. „Das ist auch bedrückend, wenn man eigentlich davon überzeugt ist, dass der Täter vor einem sitzt“, sagt Timmermann. Auch die Opfer müssten dann damit leben, dass der mutmaßliche Täter freikommt. Die schwierige Entscheidung, jemanden ins Gefängnis zu schicken: Doch auch die Entscheidung, eine Person ins Gefängnis zu schicken, ihr die Freiheit zu entziehen, ist eine große Verantwortung. Greeske hat das Angebot des Justizministeriums wahrgenommen und die JVA Hannover besucht. Ein Inhaftierter habe von seinem Alltag dort erzählt. Als sie in der Zelle stand, da überkam sie ein komisches, ein beklemmendes Gefühl, erzählt sie. Das habe ihr nochmal klar gemacht: „Wenn Menschen verurteilt werden, ist das ein nicht unerheblicher Einschnitt ins Leben.“ Für sie stärkt die Beteiligung der Schöffinnen und Schöffen den Rechtsstaat und damit auch die Demokratie. Bei den Beratungen im Richterzimmer zur Urteilsfindung fühlt sie sich von den Berufsrichterinnen und -richtern ernst genommen. „Ich hätte nicht erwartet, dass die Meinung, die ich mir bilde, diese Gewichtung hat“, sagt sie. Dabei sei es wichtig, dass auch Nichtjuristen ihre Lebenserfahrung mit in den Prozess bringen. „Man braucht Schöffen um die Unabhängigkeit der Gerichte weiter zu bewahren“, sagt sie. Auch Dirk Timmermann bereut seine Entscheidung, Schöffe zu werden, nicht. Er würde sogar nochmal antreten. Auch er hält die Beteiligung von Schöffen am Strafverfahren für wichtig – bei der Urteilsverkündung heißt es schließlich „Im Namen des Volkes“. Er sagt dazu: „Ich glaube, dass die Menschen mehr Gerechtigkeit sehen.“ Von Alina Stillahn