Hannover: Skizzen und Texte von Häftling aus KZ Stöcken veröffentlicht

Es sind beklemmende Worte: „In Stöcken stirbt man mit jedem Tag ein wenig, bevor man vollständig stirbt – an Hunger, an Schlägen, an Kälte, an Hitze“, notierte René Baumer. Der französische Künstler war 37 Jahre alt, als er im April 1944 verhaftet wurde. Er hatte sich im Widerstand gegen die deutschen Besatzer engagiert. Über das Konzentrationslager Neuengamme kam er Anfang Juli ins KZ Stöcken. Etwa 1500 Häftlinge, oft Russen oder Polen, lebten dort unter verheerenden Bedingungen. „Ihre Hände und ihre Gesichter sind ausgezehrt, ihre Kleidung ist zerfetzt und schwärzlich“, schrieb Baumer. Unter großer Gefahr machte er sich Notizen und fertigte kleine Zeichnungen an, teils noch als Häftling, teils gleich nach seiner Befreiung in Bergen-Belsen – die Nazis hatten ihn und viele andere Häftlinge noch in den letzten Kriegswochen auf einem mörderischen Todesmarsch dorthin getrieben. Nach seinem Tod im Jahr 1982 entdeckte sein Neffe die Aufzeichnungen. Jetzt hat der „Verein gegen das Vergessen – NS-Zwangsarbeit“ diese auf Deutsch herausgegeben. Die Skizzen und Texte bieten ein erschütterndes Zeugnis von der Barbarei, die in den Lagern herrschte. Das KZ Stöcken war eines von sieben Konzentrationslagern in Hannover. Die Nazis hatten es in Marienwerder rund 120 Meter südwestlich des AFA-Werks der Accumulatoren-Fabrik errichtet, wo unter anderem Antriebsbatterien für U-Boote produziert wurden. Als politischer Häftling mit der Nummer 34958 musste René Baumer unter unmenschlichen Bedingungen an heißen Öfen Gussformen reinigen. Zeugnis vom Überlebenskampf: Bleistaub setzte sich in die Lungen der Arbeiter, die teils qualvoll an Bleivergiftungen starben. Es gab kaum zu Essen, Häftlinge wurden verprügelt und mussten bei Hitze und Kälte teils stundenlang stillstehen. In dieser Atmosphäre schuf Baumer einfühlsame Porträts von Mitgefangenen, die diesen etwas von ihrer Individualität und Würde zurückgaben. Er verfertigte düstere Skizzen von Stacheldraht und Wachtürmen. Er brachte Bilder von ausgezehrten Gefangenen zu Papier und von Gehängten am Galgen – und schuf so ein Zeugnis vom Überlebenskampf und vom Sterben im Lager. „Es ist ein dokumentarisches Tagebuch, das durch seine menschliche Art berührt“, schreibt die Historikerin Janet von Stillfried in ihrem Beitrag zu dem jetzt veröffentlichten Band. Als einen „einfachen Augenzeugenbericht“ wollte der französische Künstler seine Aufzeichnungen verstanden wissen, der „frei von Sentimentalität“ sein sollte: „Meine Hand hat sich darauf beschränkt zu überliefern, was mir vor Augen stand.“ Der Historiker Rainer Fröbe hat nach Erscheinen des Buches editorische Ungenauigkeiten darin moniert. Unter anderem verorte eine Fußnote eine Übernachtung der Häftlinge auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen in Winsen/Aller, die in Wirklichkeit in Fuhrberg stattgefunden habe. Doch das nimmt Baumers Schilderungen nichts von ihrer Intensität. „Das Leben im Block 4 von Stöcken“, schrieb der Künstler, „ist während unserer gesamten Gefangenschaft unerträglich.“ René Baumer: „Von Verzweiflung und der Sehnsucht nach Freiheit. Bericht und Zeichnungen eines Überlebenden der Konzentrationslager Neuengamme, Stöcken und Bergen-Belsen“. VSA Verlag. 124 Seiten, 16,80 Euro. Von Simon Benne