Hannover: Wer ist der schillernde Unternehmer und Sponsor Martin Weiß?

Der Mann hat Schmerzen. Man sieht es, wenn er aufsteht, um seine Besucher zu begrüßen. Man sieht es, wenn er für die Porträtbilder mit der Fotografin ins Nebenzimmer geht, wo bunte Kunst an der Wand hängt und die Atmosphäre nicht so runtergekühlt ist wie sonst in der ZAG-Zentrale. Er braucht einen Stock. Er bewegt sich langsam, geht gebeugt, als ob ihm jemand die Sehnen zu stramm angezogen hätte. Die Hüfte ist hin, die rechte. Der Operationstermin steht schon in seinem Kalender. Die OP links hat Martin Weiß bereits hinter sich. Martin wer? Früher kannte niemand Martin Weiß. Irgendwann wussten Wirtschaftsfachleute, dass er eine Zeitarbeitsfirma namens ZAG leitet. Dann erfuhren Freunde des Handballsports, dass ein offensichtlich sehr vermögender Martin Weiß den TuS Vinnhorst sponsert. Und zuletzt las man im Laufe dieses Jahres mehrfach über Martin Weiß, dass er sich nicht an Corona-Regeln gehalten habe. Und dass er sich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd geliefert habe, die auf einem Feldweg bei Engelbostel endete, Handschellen, Blutprobe. Zu den Ursprüngen zurück: Er wirkt nicht wie ein Firmenchef. Er sitzt da im schwarzen Jackett, aber es sieht nicht so aus, als würden Jacketts zu seinen bevorzugten Kleidungsstücken gehören. Das rote T-Shirt einer Sylter Schnapsfirma spannt über dem stattlichen Bauch. Weiß, 71, trägt Jeans und Turnschuhe ohne Socken. Doch er redet wie ein Firmenchef. Er breitet kundig die Geschichte der Zeitarbeit in Deutschland aus, erzählt vom anfänglichen Image der Branche als „geduldeter Sklavenhandel“ und davon, wie dann unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Lockerung der Regeln zu einer „Belebung“ geführt habe. Und dazu, dass sich Firmen eine zweite, schlechter bezahlte Belegschaft hielten. Inzwischen sei die Zeitarbeit wieder „zu ihren Ursprüngen zurückgeführt“ worden, begrenzter Einsatz dort, wo Not am Mann ist. Martin Weiß lobt dafür ausdrücklich die frühere Arbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD: „Ich fand das richtig.“ Er wurde im März 1949 geboren. 1950 starb der Vater. Die Mutter verdingte sich als Putzfrau, um Martin Weiß und seinen Bruder durchzubringen. Irgendwann übertrug ihr jemand in der Firma, in der sie putzte, die Buchhaltung, ein bescheidener Aufstieg. In jenem Betrieb hat Martin Weiß dann auch gelernt, Industriekaufmann, später ging er zu einer der ersten Firmen, die in Deutschland Arbeitnehmerüberlassung anboten. Er war dort Disponent, aber das war nicht sein Lebensziel: „Ich wollte Führungskraft sein.“ Die Not überwinden: Als er diesen Satz sagt, passiert etwas mit Weiß, sein Rücken wird gerader, zugleich aber scheint sich sein Blick nach innen zu wenden. Als hätte er alles direkt vor Augen, die ärmliche Kindheit auf den Vinnhorster Straßen, die Not der Familie – und den Willen, dies alles zu überwinden. Das hat er geschafft. 1984 gründete Martin Weiß zusammen mit seiner Frau Sylvia Daniel und zwei weiteren Kollegen die ZAG Zeitarbeits-Gesellschaft, die zunächst in einem kleinen Büro an der Kanalstraße residierte und heute in dem großen graubraunen Bürokomplex an der Ecke Podbi und Eulenkamp beheimatet ist. 10.000 Beschäftigte. 110 Geschäftsstellen in Deutschland. 17.000 Firmen als Kunden. Das persönliche Vermögen von Martin Weiß wird auf 300 Millionen Euro geschätzt. Stimmt die Summe? Martin Weiß befindet die Frage keiner Antwort würdig. Er sagt: „Geld zu verdienen ist nicht das Ziel, sondern die Folge guter Arbeit.“ Er sagt: „Mich hat Geld nie interessiert.“ Das ist ein wohlfeiler Satz für jemanden, der mehr als ausreichend von dem hat, was ihn nicht interessiert. Und dennoch glaubt man ihm. Und auch wieder nicht. Das liegt an einer Großzügigkeit, die grenzenlos zu sein scheint. Weiß, der ein benachteiligtes Kind war, hilft mit der millionenschweren ZAG-Stiftung Pro Chance benachteiligten Kindern. Weiß, der als Jugendlicher beim TuS Vinnhorst „mittelprächtig“ geturnt und „ordentlich“ Handball gespielt hat, fördert diesen Verein mit Summen, von denen andere Vorstadtklubs nicht mal träumen würden: Eine halbe Million jährlich als Sponsoring für den Aufstieg in die zweite Handballliga, 15 Millionen für ein Trainingszentrum. Soeben hat Weiß seinem Verein den kroatischen Olympia-Handballer Davor Dominikovic als Trainer gekauft. In Godshorn, jenseits der Autobahn, will Weiß eine „Multisportanlage“ für den Breitensport bauen, bis zu 100 Millionen teuer. Er denkt über eine Verbindung zum TuS-Trainingszentrum per Seilbahn über die Autobahn nach. Er hat einen Handballklub für alle Handballklubs in der erweiterten Region gegründet, damit Lizenzen für alle Ligen gebündelt werden können. Damit soll auch die ZAG-Arena, die bisherige Tui-Arena, ausgelastet werden. Für den Namen zahlt die Firma jährlich eine halbe Million. Wenn man sich das alles so anschaut, dann klingt es nicht bloß großzügig. Sondern auch ein bisschen maßlos. Und man glaubt Weiß, dass ihn Geld nicht interessiert, weil er sich verhält, wie er sich verhält, und man glaubt es ihm nicht, weil sein Geld die Voraussetzung dafür ist, dass er sich so verhalten kann. Es gibt einen weiteren Punkt. Martin Weiß wirkt souverän, wenn er von seiner Firma und den Mechanismen der Branche erzählt. Wenn er aber über seine persönlichen beruflichen Leistungen befragt wird, dann sagt er oft nicht mehr „ich“, sondern „man“. Er sagt: „Man hat ein bisschen mitgestaltet.“ Als müsste er sich von sich selbst distanzieren. Als habe dieser exorbitant erfolgreiche Unternehmer gar nicht so viel mit ihm selbst zu tun. Was natürlich nicht stimmt. Wer ihn davon reden hört, dass mehr Urlaub oder mehr Familienorientierung noch nie mehr Leistung hervorgebracht hätten, ahnt, wie er als Vorgesetzter sein könnte. „Falsche Polizisten“: Vielleicht hat ihm sein Erfolg auch das Gefühl gegeben, er könne machen, was er wolle. Im April kam er aus Südamerika zurück und berief eine Besprechung ein, statt wie vorgeschrieben in Corona-Quarantäne zu gehen. Im Mai gab es eine ähnliche Situation auf dem TuS-Gelände in Vinnhorst, eine Konferenz mit zu geringen Abständen. Beide Male kam die Polizei: Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz. Weiß beschimpfte die Beamten, und nicht zu knapp. Jetzt, im Gespräch, sagt er, die Polizei sei „einmarschiert, um den Geschäftsbetrieb zu behindern“. Später, erzählt er, habe ein Auto mit falschen Polizisten vor seinem Haus gestanden. Und dann, im Juli, fuhr er ohne Führerschein mit einem Firmenbulli zum Blumenkaufen. Dabei habe ihn ein Streifenwagen verfolgt. Vielleicht wieder falsche Polizisten? Er sei weitergefahren. Aus den Pressemitteilungen der Polizei ergibt sich, dass an jenem Sonnabend „ein 71-jähriger Fahrer“ mit überhöhter Geschwindigkeit getürmt sei und etliche rote Ampeln überfahren habe. Am Ende verfolgten ihn zehn Streifenwagen. Die Beamten haben inzwischen ein Bußgeldverfahren und mehrere Anzeigen wegen Beleidigung, Nötigung, Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Gefährdung des Straßenverkehrs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und tätlichen Angriffs auf Polizisten auf den Weg gebracht. Plötzlich wirkt er klein und allein: Martin Weiß spricht darüber, als läge alle Schuld bei allen anderen. Und während er das tut, wird er fahrig, sein Lächeln versteinert, schließlich flicht er in jeden Satz, ob es passt oder nicht, mehrfach die Begriffe „letztlich entsprechend“ ein, etwa: „Letztlich entsprechend waren das Falschaussagen der Polizei letztlich entsprechend zu meinen Lasten.“ Es ist wie eine Manie. Da sitzt kein millionenschwerer Firmenchef mehr. Da sitzt ein Kind, das immer wieder sagt, es habe gar nichts getan, und dieses Kind wirkt klein und allein. Zweimal im Gespräch erwähnt Weiß seine Frau Sylvia Daniel, mit der er die ZAG gegründet hatte und die in Hannover als Unternehmerin mit Herz und Seele wahrgenommen wurde. Sie ist vor zehn Jahren gestorben, 59 Jahre alt, Krebs. Beide Male scheint es, als gebe er sich große Mühe, seine Stimme fest und stabil klingen zu lassen. 2013 hat Martin Weiß zum ersten Mal als ZAG-Chef aufgehört. 2014 ist er zurückgekommen. Dann hat er noch mal aufgehört und ist noch mal zurückgekommen. Jetzt, am 1. September, soll wieder Schluss sein. Firmenanwalt Eckart Gaude übernimmt das Zepter. Die ZAG will nach vorn schauen, plant ein großes Event zur Eröffnung der ZAG-Arena am Tag der Deutschen Einheit. Sport, Konzert, indoor, outdoor. Coronakonform, betont das Unternehmen. Martin Weiß wird natürlich dabei sein. Danach geht er in die Klinik, die zweite Hüfte operieren lassen. Von Bert Strebe