Hannover: Wie Familie Rescher aus der Südstadt sich im Lockdown behauptet

Draußen regnet es in Strömen. Die Fahrräder stehen auf dem Balkon; kleine Fluchten ins Freie sind heute nicht drin. Im Lockdown fühlen sich Februartage wie dieser rasch so düster an, als würde jemand „Brothers in Arms“ von den Dire Straits in Endlosschleife spielen. „Anfangs hatte ich noch ein schlechtes Gewissen, weil wir die Tage so dahin plänkeln ließen“, sagt Marcus Rescher, „aber was soll man denn auch unternehmen?“ Der 48-Jährige sitzt mit seiner Familie am Tisch. Sie spielen das „Spiel des Lebens“ – Vater, Mutter und zwei Kinder. Mit Kater Charly leben sie in einer Wohnung in der Südstadt, rund 80 Quadratmeter, kein Garten. Die Bundeskanzlerin sprach kürzlich vom „gewaltigen Kraftakt“, den Familien in der Pandemie zu stemmen hätten. Die Reschers zählen zu jenen, die diesen Kraftakt täglich neu bewältigen – und immer wieder das Beste draus machen. „Inzwischen nervt es richtig“: „Zu Anfang war es noch ganz cool, zu Hause zu bleiben, aber inzwischen nervt es richtig“, sagt die zehnjährige Johanna. Am meisten vermisst sie ihre Freundinnen. „Jeder Tag ist irgendwie gleich, alles ist Routine“, sagt sie. Ihrer Schwester Katharina geht es ähnlich: „Ich nehme mir jeden Tag vor, rauszugehen, wenn ich mit den IServ-Aufgaben für die Schule fertig bin “, sagt sie, „aber wenn das Wetter schlecht ist, bleibe ich dann doch oft nur im Zimmer und gucke Netflix.“ Viele Familien kennen inzwischen diesen Kreislauf aus Antriebslosigkeit und Mangel an Herausforderungen. Am Ende der Abwärtsspirale hält dann oft Apathie Einzug in die Kinderzimmer. Eltern klagen über Teenager, die vor Langeweile und Frustration die Wände hochgehen, oder über Kleinkinder, die kein rechtes Verständnis für das Prinzip des Homeoffice aufbringen. So ein Lockdown ist auch ein Lehrstück über die Unmöglichkeit, am Küchentisch die Haftpflichtfälle von A bis K abzuarbeiten, während die Fünfjährige mit der Kuchengabel in der Steckdose prokelt. „Ich finde es extrem anstrengend, Tag und Nacht gebraucht zu werden“, sagt eine Mutter, die in der Nachbarschaft der Reschers wohnt. Ihr Sohn hat ihr kürzlich vorgerechnet, dass sie jetzt schon 26 Sonnenuntergänge am Maschsee beobachtet hätten. Eltern erkaufen sich im Homeoffice gern ein paar Minuten Arbeitszeit, indem sie Kinder mit der Erlaubnis zum Fernsehen bestechen; und trotzdem reiben sich viele auf im Spagat zwischen Job und Familie. Die Eltern schaffen Programmpunkte: „Ich sitze im Büro allein und darf zur Arbeit gehen“, sagt Mutter Christina Rescher, wobei sie das Wort „darf“ betont. „Das ist gut, denn sonst wären wir alle den ganzen Tag lang zusammen in der Wohnung – und dort könnte ich nicht vernünftig arbeiten.“ Je kleiner die Wohnung, umso größer sind oft die Probleme. Erzwungene Nähe schafft häufig ein Bedürfnis nach Distanz, das sich durch Winterspaziergänge irgendwann kaum noch stillen lässt. Am Ende sind alle genervt voneinander. „Die Hölle, das sind die anderen“, heißt es bei Sartre. Die Reschers haben es da noch vergleichsweise gut getroffen: „Wir haben ohnehin selten Streit – und weil ich zur Arbeit aus dem Haus gehe, haben wir auch nicht mehr Reibungspunkte als sonst“, sagt die 43-Jährige. „Ein Lagerkoller hat sich bei uns glücklicherweise noch nicht eingestellt“, sagt ihr Mann. Das liegt auch daran, dass die Eltern Programmpunkte schaffen. „Wir machen mal einen gemeinsamen Fernsehabend mit Pizza, oder wir backen zusammen Kuchen“, sagt Christina Rescher. „Manchmal ist auch der Einkauf im Supermarkt der Höhepunkt des Tages.“ Bewusst sorgen die Eltern dafür, dass der Tag eine Struktur bekommt. Morgens klingelt für die Töchter der Wecker. „Sonst besteht die Gefahr, dass sich der Rhythmus verschiebt“, sagt Marcus Rescher, „dann schlafen alle erst nachts um 3 Uhr ein und bleiben bis elf im Bett.“ In den Ferien, die ja immer ein absehbares Ende haben, könne man sich ruhig einmal gehen lassen, sagt der Vater. „Aber was wir jetzt erleben, ist der Normalmodus, und es ist ungewiss, wie es weitergeht.“ „Kinder verpassen im Lockdown viel‘“: Beide Töchter sind begeisterte Turnerinnen bei VfL Eintracht, in normalen Zeiten trainieren sie mehrmals in der Woche. Jetzt machen sie Workouts teils schon morgens daheim im Zimmer. Auch Sport lässt sich über Zoom-Meetings organisieren. Das ganz normale Turnen mit ihren Freundinnen fehlt ihnen trotzdem. „Für die Kinder tut es mir besonders leid“, sagt Christina Rescher, „sie verpassen im Lockdown viele Sachen, die sich niemals nachholen lassen.“ Katharina kann von der Freundin erzählen, die nach längerer Zeit aus dem Ausland zurückkehrte, und die sie nicht richtig begrüßen konnte. Und die Fünftklässlerin Johanna, die im Sommer auf die Tellkampfschule gewechselt ist, hat ihre neuen Mitschülerinnen und Mitschüler nur mit Maske und Abstand kennengelernt. „Dass wir nicht auf Klassenfahrt gehen konnten, ist schon schade“, sagt sie. Die Schulaufgaben erledigt Katharina am Computer und Johanna am Handy. Ihr Vater begleitet das Homeschooling – und findet es anstrengend: „Ich bin praktisch Lehrer, obwohl ich seit Jahren aus der Schule bin“, sagt er. Manchmal fühle er sich dabei allein gelassen: „Wie gut das Homeschooling läuft, hängt sehr vom Engagement der einzelnen Lehrkräfte ab“, sagt der gelernte Kaufmann. Die Alltagskontakte fehlen: Der Vater, der momentan meist daheim ist, vermisst ganz gewöhnliche Alltagskontakte: „Die Geselligkeit fehlt schon“, sagt er. „Was wäre das für ein Luxus, mal wieder mit zwei Freunden in einem Restaurant zu sitzen – und zum Friseur würde ich auch ganz gerne mal wieder.“ Irgendwann wird das normale Leben den Lockdown ablösen. Johanna hofft schon jetzt darauf, dass sie ihren Geburtstag im August mit ihren Freundinnen feiern kann. Und Katharina würde gerne ins Kino gehen, „mit ganz vielen Leuten und ohne Maske“, wie sie sagt. Ihre Mutter blickt auf den Neustart, der irgendwann ansteht, mit gemischten Gefühlen: „Manchmal mache ich mir Gedanken, ob die Kinder auch wieder in Tritt kommen, wenn es dann losgeht“, sagt sie am Wohnzimmertisch. Sie fürchtet eine Art Gewöhnungseffekt: „Teils gefällt es den Kindern schon ganz gut, drei Stunden am Tag auf dem Bett zu liegen und Youtube zu gucken“, sagt sie kritisch. Aber da widerspricht ihre Tochter Johanna ihr vehement: „Mama, ich gucke Netflix!“ Von Simon Benne