Hannover: Wie Menschen mit Behinderungen unter den Corona-Regeln leiden

Mit den Corona-Einschränkungen Mitte März hat sich für Petra Mengel schlagartig alles geändert: Sie durfte nicht mehr zu ihren regelmäßigen Stammtischen gehen, keine Freunde treffen und ihre Wohnung nur noch für Spaziergänge und zum Einkaufen verlassen. Die 56-Jährige musste ihre Routinen von einem Tag auf den anderen ändern. Das war natürlich bei vielen Menschen so – doch für Mengel war die plötzliche Umstellung schwieriger zu bewältigen als für andere, denn sie lebt mit einer Behinderung. Welche Einschränkung genau sie hat, will sie nicht öffentlich machen. Sie nutzt aber schon seit Jahren die Hilfe von Sozialarbeitern der Hannoverschen Wohnassistenz, dem Betreuungsangebot der Hannoverschen Werkstätten. Wie viel sind zwei Meter Abstand? Bei den Menschen mit Behinderung, die bei den Hannoverschen Werkstätten arbeiten, in den Wohnheimen leben oder die ambulante Betreuung in Anspruch nehmen, sei die Verunsicherung und die Angst groß gewesen, sagt Jana Koch, Leiterin der Wohnangebote. Für viele sei die Situation schwer zu verstehen und einzuschätzen gewesen. „Wir haben telefonisch zu allen Klienten Kontakt aufgenommen und gesagt: ,Wir sind für euch da’“, erzählt Koch. „Viele waren froh, mit uns reden zu können.“ Die Sozialarbeiter leisten im Moment telefonisch viel Aufklärungsarbeit. „Das Verstehen kommt nach und nach“, sagt Koch. Einige Menschen mit Behinderung müssten zum Beispiel für sich herausfinden, was zwei Meter Abstand sind. „Wenn man das fragt, zeigt einer 50 Zentimeter und einer zehn Meter“, sagt die Leiterin. Andere seien unsicher, ob sie überhaupt noch rausgehen oder ihre Post öffnen könnten. „Wir sprechen auch darüber, ob sie gut versorgt sind“, erklärt Koch. „Teilweise gehen wir die Vorräte Schritt für Schritt am Telefon durch – da sind ganz kreative Dinge entstanden.“ Die 30 Mitarbeiter des ambulanten Dienstes betreuen rund 300 Menschen. Viele haben Angst und sind überfordert: Jeder habe natürlich selbst wählen können, ob er die ambulante Hilfe weiter in Anspruch nehmen wolle oder eben nicht, sagt Koch. Etwa 70 Prozent hätten sich dafür entschieden, einige verzichteten lieber auf den Kontakt. Generell merkten die Sozialarbeiter, dass es einigen Klienten psychisch schlecht ginge, sagt Koch. Sogar einen Selbstmordversuch aufgrund von Angst und Überforderung habe es gegeben. „Es geht bei unserer Arbeit auch darum, eine Vereinsamung zu verhindern.“ Die Mitarbeiter bemühen sich, Alternativen zum direkten Kontakt anzubieten – etwa mit Mitmachaktionen im Internet – „aber normal ist das natürlich nicht“. Viele Hilfsangebote fänden weiterhin mit persönlichen Kontakten statt. Auch Petra Mengel möchte auf das ambulant betreute Wohnen nicht verzichten, weil „ohne die Hausbesuche die Menschlichkeit fehlt“, sagt sie. „Der persönliche Kontakt ist so wichtig, das kann kein Handy ersetzen.“ Eine Sozialarbeiterin hilft ihr zum Beispiel mit regelmäßigen Gesprächen und der Organisation von Arztterminen. Doch auch bei diesen Besuchen gilt es vor allem, Abstand zu halten. „Das ist manchmal schwierig für Menschen mit Behinderung“, sagt Koch. Ein Sozialarbeiter habe zum Beispiel beim Einkaufen einen eigenen Einkaufswagen schieben müssen, um den Klienten begleiten zu können. „Durch den großen Abstand zum Betreuer, den der Klient so nicht gewohnt war, rief er ihm laut seine Psychosen und paranoiden Ängste entgegen“, erzählt Koch. Blinde leiden besonders unter den Kontaktbeschränkungen, weil sie sich zum Beispiel nicht mehr einhaken dürfen. Auch ein Mundschutz sei für Menschen, bei denen ohnehin schon ein Sinnesorgan beeinträchtigt sei, sehr irritierend. Werkstätten bieten Notbetreuung an: Auch für die rund 1000 Werkstattmitarbeiter sei die Situation nicht einfach, sagt der Geschäftsführer der Hannoverschen Werkstätten, Manfred Willems. „Je länger die Schließung dauert, desto schwieriger wird es“, sagt er. Wäscherei, Bäckerei, Fleischerei und auch Teile der Montage seien zwar noch geöffnet, allerdings seien weniger Mitarbeiter im Einsatz. Auch die Näherei sei geöffnet – produziere momentan aber ausschließlich Mund-Nasen-Masken für den eigenen Bedarf. Zudem gebe es eine Notbetreuung für einige Werkstattmitarbeiter. Das tägliche HAZ Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Hannover täglich gegen 6 Uhr im E-Mail-Postfach. Im Moment werden noch alle bezahlt, auch wenn die Hannoverschen Werkstätten wie viele andere Unternehmen mit Einbußen zu kämpfen haben. „Wir kochen normalerweise 2500 Essen für Schulen und Kindergärten – jetzt sind es 46“, sagt Willems. Und auch der Werkstattbetrieb verliere Aufträge und Kunden. „Die große Frage ist, wann wir wieder öffnen können und wie wir es dann hinkriegen, die Hygieneregeln einzuhalten.“ Die unsichere Situation sei für Menschen mit und ohne Behinderung nervenaufreibend. „Man lebt im Moment von Tag zu Tag“, sagt Willems. Liveticker: Die Lage in Hannover und Niedersachsen im Überblick Aktuelle Zahlen zum Coronavirus in der Region Hannover: So viele Infizierte gibt es HAZ-Expertenforum: Das antworten Mediziner auf Leserfragen zum Virus Alle Artikel zum Coronavirus in der Region auf einen Blick So können Sie Geschäften, Gastronomie und Freiberuflern in der Region Hannover jetzt helfen Von Lisa Neugebauer