Musikhochschule Hannover: Präsidentin Rode-Breymann über den Semesterstart und Corona

Frau Rode-Breymann, an der Hochschule unterrichten Sie Künstler, von denen sich einige in Kneipen das Studium verdienen. Unterricht, Kunst, Gastronomie – das ist dreimal Corona-Kerngebiet. Bedauern Sie sich ein bisschen? Ich bedauere meine Studierenden und die Lehrbeauftragten. Kneipentätigkeit und die Mucke nebenbei fallen aus, und das Studium ist beeinträchtigt – ich habe Bewunderung für diese jungen Menschen. Das ganze Lebensmodell ist weggebrochen. Das durchzuhalten ist eine extrem harte Situation. Und zu den Lehrbeauftragten: Patchwork-Lebensläufe sind in den vergangenen zehn Jahren sehr propagiert worden. Hiervon ein bisschen, davon ein bisschen, weg von den klassischen Wegen ins Orchester oder ins Opernhaus, weil die Welt ja so viel bunter ist. Dieses Modell ist voll vor die Wand gefahren. Wird Corona und der Umgang damit zu einer Art Lehrinhalt? So weit sind wir noch nicht. Wir haben Modelle entwickelt im Sommersemester, von einer übenden Person im Raum über eine studierende und eine lehrende Person im Raum bis zu vier Studierende plus Lehrperson. Jetzt leiten wir es ganz konsequent von der Quadratmeterzahl ab. Das ist kein Paradies, aber es ist machbar. Wir müssen der Situation an Präsenz das abgewinnen, was wir ihr abgewinnen können – also alles, was wir mit aller Vorsicht verantworten können. „Der Kreativitätsbegriff hat sich verschoben“: Was ist anders als im Sommersemester? Was haben Sie gelernt? Wir haben gelernt, mit der Krise zu leben. Wir sind alle wahnsinnig verwöhnt, nach dem Zweiten Weltkrieg war das hier die Insel der Seligen. Wir haben gelernt, zu verstehen, wie kostbar das ist, was wir haben. Und wir haben gelernt, viel zu erfinden. Die Musikhochschule ist ein sehr eingespielter, professioneller Betrieb. Da fährt man wie auf der Autobahn. Jetzt sind wir auf schlechten Straßen ohne Navi unterwegs. Künstler sind ja kreativ, wird immer gesagt. Das stimmt, aber der Kreativitätsbegriff hat sich verschoben: Ein Teil dieser Kreativität sind Überlebens- und Adaptionstechniken. Wir haben allmählich verstanden, dass wir mit einer Normalitätssehnsucht nicht weiterkommen. Und wir haben gelernt, neue Wege zu finden. Darauf kann man bauen. Ein praktisches Beispiel? Wir haben eine digitale Vorrunde in den Eignungsprüfungen gemacht. Das hätten wir sonst drei Jahre diskutiert und uns aufgehängt an „Wir können doch nicht“- und „Früher war alles besser“-Diskussionen. Und jetzt mussten wir, sind wir ins kalte Wasser gesprungen, haben viel gelernt – und werden es so weitermachen. Erste Runde digital, zweite Runde live. Auch, weil es ein Beitrag zur Klimasituation ist, wenn man nicht jeden Bewerber oder jede Bewerberin durch die Welt fliegen lässt, um nach fünf Minuten vorspielen abzusagen. Wir werden großzügig sein für die Einladungen zur zweiten Runde und eher mehr einladen. Aber die, bei denen es überhaupt nicht infrage kommt, müssen nicht in ein Flugzeug steigen. „Künste können kommentieren, aber Künste sind nicht da“: Droht man dabei aus dem Auge zu verlieren, dass gemeinsames Musizieren das Kernziel des Studiums ist? Nein. Chor oder Orchester gehen nicht, ohne dass Menschen im gleichen Raum Klang entfalten. Da müssen wir auch Flagge zeigen. Das stört mich übrigens an der vermeintlichen Alternativlosigkeit, das wird nicht genug diskutiert. Um es überspitzt zu sagen: Gesund sterben, ohne noch mal ein großes Konzert zu hören, wäre nicht meine Alternative. Ich finde es toll, einen Staat zu haben, der unsere Daseinsfürsorge sehr ernst nimmt. Unsere Virologen beraten die Politik, und sie machen das sehr gut. Aber letztlich wird uns doch gerade vor Augen geführt, dass man viel schneller und viel kläglicher sterben kann, als man es in diesem Wohlstand gedacht hat. Die Künste können das kommentieren, aber die Künste sind nicht mehr da – im Land der Dichter und Denker. Über diese Dimension wird mir zu wenig gesprochen. Muss sich auch die Kultur bewegen? Man könnte zum Beispiel in leer stehenden Geschäften spielen mit Abstand und allem, was nötig ist. Das Frustrierende gerade in der freien Szene ist: Sie könnte das ausprobieren, darf es aber nicht. Ich bin gespannt, wie lange es gut geht, dass die Gesellschaft auf diese Ebene von Leben verzichten muss. Wenn man das nicht hinbekommt, wird sich die Gesellschaft weiter radikalisieren – wie wir das jetzt schon sehen. Seit einer Woche läuft das Semester. Wie war der Start? Es sind 340 neue Studierende, die meisten sind Pandemie gewöhnt. Die Lehrenden und die Studiengangssprecher werden sich aber besonders um sie kümmern. Eigentlich wollte ich die Studierenden in vier Gruppen persönlich begrüßen, doch dann kam der zweite Lockdown, sodass wir das nicht realisieren konnten. Wie nehmen die Studierenden die Situation an? Sie sind sehr fair. Ich könnte verstehen, wenn sie mehr auf die Pauke hauen würden. Aber die haben auch alle Großeltern und sehen das als eine Art Interessenausgleich der Generationen. Aber sie wissen schon, was ihnen fehlt. Und es gibt psychische Beeinträchtigungen, da ist vieles am Anwachsen. „Studenten fangen im Unterricht an zu heulen“: Inwiefern? In vielen, oft engen Wohngemeinschaften gibt es Krisen. Manche Studierende, wie ich von verschiedenen Kollegen hörte, fangen mitten im Unterricht an zu heulen. Nicht, weil sie mit dem Stoff oder ihrem Instrument nicht klarkommen. Die Nerven sind einfach blank. Im schlimmsten Fall kann so etwas in eine Depression abrutschen. Sind die jetzigen Studierenden wegen der vielen Einschränkungen gegenüber vorherigen Jahrgängen benachteiligt? Ja. Zum Beispiel die Schauspieler. Das Absolventenvorspiel fällt aus. Wenn die Theater im nächsten Jahr wieder besetzen sollten, sind es schon zwei Jahrgänge, die um die Plätze konkurrieren. Bei den Orchestern ist es ähnlich. Kann man dieser Benachteiligung begegnen? Die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung hat ein großes Programm zur Förderung aufgelegt. Wir haben einen tollen Förderkreis – die Nothilfe funktioniert ganz gut und hat auch ideellen Charakter: Es ist jemand da, der an die Musiker glaubt. Kann die Musikhochschule der Pandemie allein begegnen, oder arbeiten Sie im Verbund? Die Landeshochschulkonferenz hat sich im März und auch jetzt im Herbst wieder auf Grundlinien geeinigt. Das Land Niedersachsen lässt uns Beinfreiheit. Das ist gut, andere Bundesländer haben striktere Verordnungen. Wir haben im März entschieden, ein überwiegend digitales Semester zu machen. Jetzt machen wir ein hybrides, das ist der Landesrahmen, in dem wir agieren. Hinzu kommt die Netzwerkarbeit mit den Förderern und der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen, in der wir uns regelmäßig austauschen. „Ein Selektionsprozess der bitteren Art“: Glauben Sie, dass Corona junge Leute davon abhält, Künstler zu werden? Ich bin zutiefst überzeugt, dass es leider so kommen wird. Es wird die Schere weiter auseinanderführen. Die ganz Großen spielen auch zuerst wieder, und die, die Biss haben, werden unter allen Umständen durchhalten. Aber das ist ein Selektionsprozess der ganz bitteren Art. Ich habe an dieser Hochschule das Mantra von Exzellenz in Breite und Spitze. In der Breite werden viele aufhören. Bei Jugend musiziert holen junge Talente seit Jahren erste Preise und gehen dann Medizin studieren. Das wird uns, so denke ich, nun verstärkt passieren. Wir haben in diesem Jahr keine zurückgehenden Studierendenzahlen und natürlich noch keine signifikanten Zahlen von Studienabbrechern. Aber darüber müssen wir uns das nächste Jahr noch mal unterhalten. Wir produzieren eine Delle. Susanne Rode-Breymann, 1958 in Winsen (Luhe) geboren, lehrt seit 2004 an der Musikhochschule Hannover (HMTMH) und ist seit 2010 deren Präsidentin. Zudem ist sie Vorsitzende der RKM, der Rektorenkonferenz der 24 staatlichen Musikhochschulen in Deutschland. Die Professorin hat umfangreich über Musikgeschichte und Genderforschung publiziert und leitet seit 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender an der HMTMH. Machen Ihnen die Nachrichten über einen einsatzfähigen Impfstoff Hoffnung? Das ist wirklich ein Silberstreif, aber Impfung ist nur ein Baustein, nicht die Lösung. Außerdem haben wir in der Musikkultur ja gelernt, dass wir nicht systemrelevant sind. Bei den Überlegungen der Ethikkommission, wer zuerst mit dem Impfen dran ist, kommen wir deswegen vermutlich ganz spät dran. Ich glaube, dass wir noch das gesamte Jahr 2021 damit zu tun haben werden. Hannover wird nicht Kulturhauptstadt 2025. Wie schlimm ist das? Es gibt so viele Ideen! So viele Menschen in Hannover haben darüber nachgedacht, und Nachdenken geht nicht verloren. Man muss gucken, was man trotzdem umsetzt, denn ich glaube, dass alle das wollen. Und vielleicht wird es dann viel nachhaltiger als ein Jahr Event. Lesen Sie auch: „Die Unis können viel von uns lernen“ Von Uwe Janssen