Muss Hannovers Walderseestraße umbenannt werden? Diskussion im HAZ-Leserforum

Erst war die Nazi-Zeit dran. Rückt jetzt die Epoche des Kolonialismus in den Fokus? Wieder einmal diskutiert Hannover über die Umbenennung einer Straße. Während der Dissens über die Hindenburgstraße im Zooviertel noch nicht gänzlich ausgestanden scheint, ist es diesmal die Walderseestraße am Rand der östlichen Eilenriede. Waldersee – als unfreiwillige Symbolfigur einer Debatte um Hannovers Umgang mit der Kolonialzeit. Black-Lives-Matter-Aktivisten fordern, das Denkmal müsse verschwinden, der Rat diskutiert über eine mögliche Umbenennung. Während die CDU dagegen ist, begrüßen die Jusos die Diskussion: „Es wird höchste Zeit, dass wir uns mit den Spuren der Kolonialzeit in Hannover kritisch auseinandersetzen“, sagt Jana Thaler von der SPD-Jugendorganisation. Hier unser ausführlicher Bericht Waldersee. Tatsächlich ist diese Debatte überfällig, meint HAZ-Reporter und Historiker Simon Benne. Schon weil sie Gelegenheit bietet, sich in Erinnerung zu rufen, wer da eigentlich grimmigen Blickes an der Eilenriede steht. Hier die Meinungen unserer Leserinnen und Leser. Leser Jürgen Tittel aus Hannover: „Absurde Argumentation“: Der Artikel zu einer möglichen Umbenennung der Walderseestraße wirft mehr Fragen auf, als er zu beantworten vorgibt. So bleibt es rätselhaft, wie der Autor zu der Einschätzung kommt, eine Ehrung sei ein Straßenname nur zum Zeitpunkt der Benennung. Dann wurden Konrad Adenauer und Willy Brandt in Hannover ja nur kurz geehrt! Das haben beide nicht verdient. Weiter zweifelt der Autor die demokratische Legitimation von Bezirksräten an, wenn er sich zu der Behauptung versteift, eine Entscheidung für die Umbenennung einer Straße gegen den Willen der Anwohner fördere die Demokratieverdrossenheit. Heißt das, wir brauchen keine Räte mehr, nur Volksabstimmungen? Weitere eigene Argumente gegen eine Umbenennung der Walderseestraße fallen Ihrem Redakteur nicht ein. Scheinbar helfen ihm zwei Zitate von Historikern: Thomas Vogtherr warnt vor einer „moralische(n) Unbedingtheit“, und Martin Sabrow sieht in Umbenennungen „historischen Exorzismus“. Nun geht es bei Umbenennungen aber gar nicht um irgendeine Moral. Es geht um die Selbstvergewisserung einer auf den Prinzipien von Humanismus, Demokratie und Freiheitsrechten errichteten Gesellschaft, die sich demgemäß ihren eigenen öffentlichen Raum schafft. So eine Gesellschaft lässt sich nicht von Namensgebern aus Kaiser- oder Nazi-Zeit vorschreiben, wie sie Straßen und Plätze für alle Zeiten zu benennen hat. Damit hat sich auch der Vorwurf des Exorzismus erledigt. Die inkriminierten Personen sind nach einer Umbenennung ja nicht aus der Geschichte verschwunden. Ihnen wird nur nicht die Ehre zuteil, neben Freiheitskämpfern und anderen verdienten Persönlichkeiten den öffentlichen Raum zu zieren. Ländernamen wurden schon geändert, auch Städte umbenannt, Sportstadien erhalten oft den Namen von Firmen. Niemand spricht dann von Geschichtsvergessenheit oder gar Exorzismus. Aber wenn Kriegsverbrecher, Mörder oder ihre Helfer aus dem Stadtbild verschwinden sollen, dann gibt es Protest? Folgt man der Argumentation Ihres Autors, dann hätten wir in Hannover noch eine Adolf-Hitler-Straße. Das ist doch absurd! Jürgen Tittel, Hannover Leserin Monika Kippenberg aus Garbsen: „Eines Besseren belehren lassen“: Ich danke Ihnen für den Artikel bezüglich der Straßenumbenennungen. Sie haben meine Meinung zu dem Thema genau widergespiegelt. In der Hoffnung, dass die zuständigen Bezirksräte sich auch eines Besseren belehren lassen können. Monika Kippenberg, Garbsen Leser Peter Hübner aus Hannover: „Ehrenbürgerschaften nicht vergessen“: Was wird mit Ehrenbürger Wal-dersee? Die Änderung von Straßennamen ist eine Sache, doch was ist mit der Streichung von Personen von der Liste der Ehrenbürger ? Glaubt man Wikipedia, dann sind sowohl Generalfeldmarschall Alfred von Waldersee (seit 1900) als auch der frühere Reichspräsident Paul von Hindenburg (seit 1915) Ehrenbürger der Stadt Hannover. Wenn man bedenkt, dass Adolf Hitler erst 1978 (!) der Ehrenbürger-Titel gestrichen wurde – ein ungeheuerliches Versäumnis –, kann man sich ausrechnen, wie lange der Kolonialist Waldersee weiterhin auf dieser Liste geführt wird. Peter Hübner, Hannover Leser Walther Wever aus Barsinghausen: „Dem Änderungswahn zum Opfer gefallen“: Wann hört der Wahnsinn auf? Der großartige Artikel veranlasst mich, erneut den Finger in die Wunde des leidigen Themas der aktuellen Straßenumbenennungen zu legen. Beginnen wir bei dem Projekt der General-Wever-Straße, die bald Helmut-Schmidt-Straße heißen soll. Ist den Entscheidungsträgern eigentlich bewusst, dass Wever als Offizier von Januar 1933 bis Mitte 1936 rund drei Jahre dem NS-Regime diente, während dies Schmidt als Soldat von November 1937 bis Mai 1945 mehr als doppelt so lang tat? Unzweideutig erwarb der sich später große Verdienste, doch das konnte Wever nicht mehr. Wever nahm nicht einmal am Zweiten Weltkrieg teil. Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen? Ist denn die Ansicht des Autors so falsch, dass eine Straßenbenennung nur zu Zeiten der Benennung eine Ehrung darstellt, um dann im Laufe der Jahre zu einer historischen Quelle zu mutieren? Nun ist Waldersee dran, dann folgen sicher die hannoverschen Könige (Georg war ein großer Kolonialist). Ich behaupte, bald werden auch die Tillystraße (benannt nach dem größten Kriegsverbrecher Deutschlands) und die Lutherstraße (dem Judenhasser) dem Änderungswahn zum Opfer fallen. Mir fallen noch viele Namen ein! Wenn wir dann in zehn Jahren straßenbezogen geschichtslos sind, wird man sicher fragen, warum eigentlich die Millionen für die Umbenennungen verschwendet wurden. Walther Wever, Barsinghausen Leserin Irene Becker aus Hannover: „Ansichten sind nicht ewig gültig“: Schon die Überschrift beinhaltet die Antwort. Die Wertvorstellungen ändern sich – keine ewige Gültigkeit unserer heutigen Ansichten. Fast könnten Mode, Musik, Baukunst als Beispiel dienen. Die einstigen Kriegshelden sind heute meist erkannte Verbrecher gegen die Menschlichkeit. Sie sind unsere Vorfahren (für mich, Jahrgang 1940, fast Zeitgenossen). Wenn vereinzelt Skulpturen an sie erinnern – gut so! Ihr Autor hat das Problem wunderbar beschrieben. Die verschwurbelte Umwidmung der Wißmannstraße vom Afrikaforscher auf den gleichnamigen Kommunisten Hermann Wißmann, der im KZ 1933 starb, ist unwürdig, verletzend, heuchlerisch. Irene Becher, Hannover Leserin Margret Thiem aus Hannover: „Geschichte gehört akzeptiert“: Dank an Ihren Redakteur, der objektiv aufgezeigt hat, dass Geschichte nicht ständig umgeschrieben werden muss, sondern erklärt und akzeptiert gehört. Margret Thiem, Hannover Leser Franz Brücker aus Hannover: „Populismus wird Tür und Tor geöffnet“: Die Überlegungen Ihres Autors sind ein Beleg dafür, wie Bedürfnisse einer verschwindend kleinen „elitären“ Bewegung über die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gestellt werden und von dieser auch noch finanziert werden müssen. Dies wird an der Umbennung der Hindenburgstraße in Hannover sehr deutlich. Die politische Entscheidung war längst gefallen, als man bei den betroffenen Anwohnern eine Scheinbefragung veranstaltete. Obwohl mehr als 75 Prozent der Befragten gegen die Umbenennung stimmten, wurde sie trotzdem vorgenommen. Solche pharisäerhaften Entscheidungen von „elitären“ Minderheiten führen letztlich zu einer Spaltung der Gesellschaft und öffnen dem Populismus Tür und Tor. Das zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre in den USA sehr deutlich. Es wäre sinnvoller, sich mit den anbahnenden gravierenden Veränderungen unserer Gesellschaft zu befassen als permanent die Vergangenheit der Deutschen „aufzuarbeiten“. Franz Bücker, Hannover Leserin Almut Faye aus Hannover: „Nach Pflanzen, Tieren und Orten benennen“: Endlich mal ein vernünftiger, differenzierter Artikel, der die Dinge ein wenig zurechtrückt. Ach, kämen die damit befassten Leute der Stadtverwaltung doch auch zu der Einsicht, dass Umbenennen Geschehenes nicht ungeschehen macht. Dass unmittelbar nach Kriegsende die nach Adolf Hitler und anderen NS-Größen benannten Straßen und Plätze umbenannt wurden, war zweifellos richtig, ja zwingend. Ich erinnere mich, dass aus dem Hugenberg-Platz der Lister Platz wurde. Aber was da jetzt abläuft, ist einfach übertrieben und geht in eine falsche Richtung. Außerdem gibt es wahrhaftig Wichtigeres zu tun. Im Übrigen schlage ich vor, Straßen grundsätzlich nicht nach Personen zu benennen, sondern ausschließlich nach Pflanzen, Tieren oder Orten. Almut Faye, Hannover Leser Wolfgang Froch aus Hannover: „Geschichte nicht ungeschehen machen“: Zunächst einmal ist es unbedingt zu begrüßen, dass sich der Autor recht umfassend mit der Diskussion um die Umbenennung von Straßen befasst hat. Dies kann sicher zur Versachlichung der häufig emotional geführten Diskussion beitragen. Er hat verschiedene Aspekte des Für und Wider dargelegt. Diese gilt es jedoch zu ergänzen. Zum Einen ist es richtig, dass ein Straßenname eine „Ehrung im Moment der Benennung“ ist, die dann „im Laufe der Jahre zu einer historischen Quelle“ wird. Aber eben nicht nur „im Moment der Benennung“. Beispiele für unstrittige Wieder-Umbennungen von Straßen auf Grund neuer Bewertungen gibt es auch in Hannover (etwa Adolf-Hitler-Straße in Bahnhofstraße, Rustplatz in Georgsplatz). Niemand würde in diesen Fällen ernsthaft behaupten können, Geschichte solle ungeschehen gemacht werden. Ferner ist es wohl noch immer so gewesen, dass sich die direkt betroffenen Anwohner bei Abstimmungen mehrheitlich für die Beibehaltung des umstrittenen Namens ausgesprochen haben. Auch wenn hier nicht immer nur persönliche Motive unterstellt werden können, so dürften doch die Gewöhnung an den Namen, Bequemlichkeit, aber auch das Scheuen von Kosten etwa für Adressänderungen eine bedeutende Rolle spielen, mithin also eine gewisse Befangenheit vorliegen. Dies ist für mich sogar verständlich. Es gibt aber kein Recht der Anwohner auf die Bestimmung „ihres“ Straßennamens. Vielmehr wird von der Kommune entschieden, wen die Gemeinde für ehrenswürdig hält – und wen nicht (mehr). Um aber den finanziellen Auswirkungen einer Umbenennung für die Anwohner Rechnung zu tragen: Wie wäre es, wenn die Stadt in derartigen Fällen den Anwohnern eine bestimmte „Aufwandsentschädigung“ zahlt? Ein letzter Aspekt kommt mir im Artikel zu kurz beziehungsweise es werden zwei Dinge vermischt, die meines Erachtens getrennt betrachtet werden sollten – nämlich der Umgang mit dem Straßennamen Walderseestraße und mit dem Waldersee-Denkmal. Ein Straßenname hat auch eine beträchtliche Außenwirkung, da der Name in den Adressen und Stadtplänen auftaucht; das Anbringen etwa eines erklärenden Schildes am Straßenschild hilft hier nichts. Hier sollte – im Falle des Generals Waldersee muss – eine Umbenennung erfolgen. Anders sieht es bei dem Denkmal aus. Dies würde sich sehr gut für eine die neue Sicht der Dinge erklärende, am Denkmal angebrachte Tafel eignen. Das wäre dann ein konstruktiver Umgang mit der unliebsamen Vergangenheit. Am Beispiel des heutigen Bertha-von-Suttner-Platzes mit dem Karl-Peters-Denkmal ist dies sehr gut gelungen. Wolfgang Froch, Hannover Leser Christian Wegener aus Neustadt: „Kein Ersatz für Geschichtsunterricht“: In dem Text wird behauptet, dass alte Straßennamen bezeugen, was es einmal gab. Sicher ist das richtig – aber es ist dennoch mit einer Ehrung des Namensgebers verbunden. Die RAF gab es auch mal, trotzdem gibt es wohl in ganz Deutschland keine Gudrun-Ensslin-Wege, Andreas-Baader-Straßen oder Alleen zum Radikalenerlass. Dass Straßennamen keinen Geschichtsunterricht ersetzen oder auch nur ergänzen, wird allein dadurch klar, dass offensichtlich nur wenige wissen, wer Waldersee war und was der so in China getrieben hat. Christian Wegener, Neustadt Von HAZ