Neurochirurg Samii zu Corona: Wir werden mit dem Virus leben müssen

Herr Professor Samii, die Corona-Pandemie beschäftigt die Welt nun schon seit mehr als einem Jahr. Wie besorgt sind Sie? Ich mache mir große Sorgen. Aber ich kann nicht über die Entwicklung der Pandemie sprechen. Ich bin kein Virologe. Ich bin nur ein einfacher Bürger, der nebenbei Mediziner ist. Mit Verlaub: Das sind Sie nicht. Es könnte nur vermessen wirken, wenn ich mich in die große Debatte über Impfstoffe und eventuelle Versäumnisse einmische. Ich habe nur ein paar bescheidene Gedanken zur Debatte beizusteuern. Mir ist es wichtig, den Menschen Perspektiven aufzuzeigen. „Wir können das Virus nicht beherrschen“: Nur zu. Tatsache ist, dass ein infizierter Mensch in kürzester Zeit Hunderte andere Menschen anstecken kann. Das heißt: Wir können das Virus nicht beherrschen. Wir haben gar keine andere Wahl: Wir werden mit dem Virus leben müssen. Aber wie wir damit umgehen, und was wir daraus machen, das bestimmen wir selber. Mir geht es um die Frage, wie wir unser Leben mit Corona gestalten können. Ein weiterer oder längerer Lockdown wäre keine Lösung? Nein, denn die Kollateralschäden wären zu groß. Wir müssen einen gewissen Lebensstandard für alle Menschen sicherstellen, das ist mein Wunsch. Es gibt keinen Zweifel, dass die Impfung eine große Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie spielt. Wir sollten die Menschen motivieren, diese Chancen wahrzunehmen. Das alleine reicht allerdings nicht. Deshalb habe ich mir über ein Vier-Säulen-Modell Gedanken gemacht, mit dem wir das Leben mit Corona organisieren könnten. „Sozialwissenschaftler wurden zu wenig berücksichtigt“: Was sind das für vier Säulen? Erstens: Alle, die arbeiten und geschäftlich aktiv sind, sind in Verbänden organisiert. Diese Verbände sollten ihre Erfahrungen mit einem Jahr Corona dokumentieren. Die Verbandsvertreter sollten aus ihren eigenen Erfahrungen Vorschläge machen, wie sie mit Corona weitermachen können. Die zweite Säule ist die Digitalisierung. Wir müssen das Potenzial, das wir in Deutschland haben, in Anspruch nehmen. Wir werden weiterhin Kontakte reduzieren müssen, wenn wir die digitalen Möglichkeiten nutzen, werden sich die wirtschaftlichen Schäden in Grenzen halten. Die dritte Säule betrifft den Einsatz von Sozialwissenschaftlern. Die wurden bisher viel zu wenig berücksichtigt. Wir brauchen die Expertise dieser Spezialisten, um die Kollateralschäden der Kontaktbegrenzungen einzudämmen. Und die vierte Säule? Dabei geht es um die Möglichkeit zu testen. Corona-Tests sollten überall und jederzeit unbürokratisch möglich sein. Wenn die Menschen regelmäßig getestet sind, haben sie keine Angst mehr und können beispielsweise an ihrem Arbeitsplatz weiterhin tätig bleiben. So kann es in vielen Lebensbereichen eine Annäherung an die Normalität geben. „Ich setze große Hoffnungen auf Medikamente“: Was ist mit Investitionen in die Forschung? Die sind selbstverständlich auch wichtig. Ich setze große Hoffnungen auf Medikamente, die das Immunsystem stärken und so den schlimmen Verlauf einer Corona-Erkrankung abmildern können. Wir stehen gerade erst am Anfang der Entwicklung von Immuntherapien. Wir lernen so viel. Die Forschung auf diesem Gebiet explodiert. In den nächsten Jahren werden wir unglaubliche Fortschritte im Bereich der Immuntherapien sehen können. Außerdem hoffe ich auf baldige Entdeckung eines Medikaments, das gezielt gegen das Coronavirus wirkt. Lesen Sie auch: Vor dem Corona-Gipfel in der nächsten Woche: Ist Niedersachsen in der Spur? Wie gehen Sie denn am INI mit dem Virus um? Wir haben schon vor dem ersten Lockdown eine Taskforce eingerichtet. Wir haben gemeinsam mit den Vertretern aus allen Klinikbereichen Hygieneregeln erstellt und angepasst. Wir haben keine Kosten gescheut und früh in Hygienemaßnahmen aller Art investiert. Der Erfolg ist, dass wir bis heute keinen einzigen Corona-Fall am INI hatten. Hatten Sie durch Corona weniger Patientinnen und Patienten am INI? Es gab eine Zeit, zu der viele Menschen unsicher waren. Die Menschen haben Angst gehabt, ins Krankenhaus zu gehen. Aber wir haben sofort Schnelltest in unserem Haus eingeführt. „Jetzt habe ich mehr Ruhe und Freiheiten“: Wie haben Sie persönlich den ersten und zweiten Lockdown erlebt? Vor Corona bin ich für Vorträge viel durch die Welt gereist. Damit war es schnell vorbei. Seit März bin ich in Hannover geblieben und halte meine Vorträge weltweit online via Videokonferenz. Haben Sie in der Zeit auch etwas Neues für sich entdeckt? Vielleicht den Reiz von Spaziergängen? Ich bin in der Tat viel zu Fuß unterwegs, an vielen Wochenenden laufe ich mehr als zehn Kilometer. Aber es hat sich noch etwas anderes ergeben: Als Kind habe ich ein Instrument gespielt: die Tar, eine orientalische Laute. Früher war mein Gehirn nicht frei genug, um sich auf die musikalischen Feinheiten des Instruments einzulassen. Es gab so viel zu tun: Kongresse, Vorträge, die Arbeit im Operationssaal. Jetzt habe ich mehr Ruhe und mehr Freiheiten. Glauben Sie mir: Noch nie habe ich die Tar so präzise gespielt wie jetzt. Jeder Finger weiß, wo er hin muss. Für mich als Hirnforscher ist es unglaublich interessant, wie mangelnder Druck die Konzentrationsfähigkeit zu steigern vermag. Madjid Samii, geboren 1937 in Teheran, ist ein weltweit renommierter Neurochirurg. Er war Direktor der neurochirurgischen Kliniken Nordstadt und MHH in Hannover. 1997 wurde er Präsident des Weltverbandes der Neurochirurgen. 2000 eröffnete er das International Neuroscience Institute (INI) in Hannover. Das INI gilt weltweit als eines der führenden Neurozentren. Samii hat zahlreiche Verfahren entwickelt, mit denen Operationen am Gehirn und Rückenmark schonender vorgenommen werden können. In mehr als 500 wissenschaftlichen Publikationen und Büchern sind seine Pionierarbeiten dokumentiert. Samii erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden sowie Ehren- und Gastprofessoren und wurde Ehrenbürger vieler Städte. Es wurden ihm viele Medaillen verliehen, darunter das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, die Goldene Ehrenmedaille der neurochirurgischen Gesellschaft von Amerika und der Leibniz-Ring vom Presseclub Hannover. Im Jahre 2011 hat der Weltverband der Neurochirurgen die Madjid Samii Medal of Honor gestiftet. Alle zwei Jahre wird die Medaille an herausragende Neurochirurgen verliehen. Sie haben jahrzehntelang mit fremden Gehirnen gearbeitet. Beobachten Sie eigentlich auch Ihr eigenes Gehirn? Selbstverständlich: Wenn ich beim Auftauchen von Problemen schnell mit der Analyse bin, dann weiß ich, dass mein Gehirn immer noch in alter Schärfe arbeitet. Wenn ich müde bin oder mal keine Lust habe, merke ich, dass mein Gehirn nicht so arbeitet, wie ich es mir vielleicht wünsche. Dann hilft eben Schlaf. Lesen Sie auch: Friseure, Maskenpflicht, Schulen: Das sind Niedersachsens aktualisierte Corona-Regeln Bemühen Sie sich, gut mit Ihrem Gehirn umzugehen? Ich habe mich in meinem Berufsleben mit vielen und vielfältigen Aufgaben auseinanderzusetzen. Aber ich bleibe dabei meist sehr ruhig. Das hat einen Grund: Ich strapaziere mein Gehirn nicht mit Dingen, die überhaupt keine Bedeutung haben. Woher wissen Sie vorher, was keine Bedeutung hat? Es geht um Daten, Zahlen oder Namen. Ich muss nicht alles behalten. Vieles ist Ballast. Man sollte sich nicht damit belasten. Deshalb habe ich auch Sorge um die Kinder, die sich zu viel mit Computerspielen beschäftigen. Das vergiftet das Gehirn. Ansonsten ist auch die Ernährung für das Gehirn von großer Bedeutung. Wer älter als 35 Jahre ist, sollte genau auf seine Ernährung und seine Fitness achten. Wenig Zucker, wenig Fett und viel Bewegung. Das ist äußerst wichtig, um das Gehirn frisch zu halten. Von Ronald Meyer-Arlt