Schleppender Corona-Schutz: Leserbriefe zum Impfstoffmangel

Fehlende Präparate, glücklose Bestellstrategie, Probleme bei der Terminvergabe: Die Impfkampagne in Niedersachsen und Deutschland läuft nur schleppend an. HAZ-Leser diskutieren über politische Fehler und verständliche Anlaufschwierigkeiten. Leser Dr. Raymond Young aus Hannover: „Das war verantwortungslos“: Einem behäbigen Apparat mit divergierenden Interessen wie der EU die dringlichsten Aufgaben aller Zeiten – die Zulassung und den Einkauf des essenziellen Impfstoffes – zu überlassen ist das Verantwortungsloseste, was man in dieser Situation tun konnte. Weiß man doch, spätestens seit der Flüchtlingskrise, dass etwas „nur mit der EU gemeinsam zu machen“ bedeutet, es auf die lange Bank zu schieben. Dr. Raymond Young, Hannover Leser Bernhard Lorenz aus Ronnenberg: „Wir brauchen Geduld“: Die gewaltigen logistischen Herausforderungen bei der Organisation und Durchführung der Corona-Impfung für eine 83-Millionen-Gesellschaft lassen sich mit der von vielen gewohnten Amazon-Mentalität (heute bestellt, spätestens in zwei Tagen geliefert) leider nicht in Einklang bringen. Es liegt doch auf der Hand, dass es ziemlich lange dauern wird, bis ein Großteil der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft ist und dadurch überhaupt erst eine Herdenimmunität erreicht werden kann. In Niedersachsen sind beispielsweise 52 Impfzentren eingerichtet, die ihren Betrieb mobil in Alten- und Pflegeheimen aufgenommen haben. Wenn in jedem dieser Zentren pro Tag 1000 Menschen geimpft werden (52 000 pro Tag), dauert es bei sieben Tagen die Woche fast sieben Monate, bis 5,2 Millionen Menschen (65 Prozent von acht Millionen Einwohner) der Bevölkerung geimpft sind (5,2 Millionen : 52 000 = 100 Tage = 3,33 Monate mal zwei wegen Zweifachimpfung = 6,66 Monate). Dies setzt natürlich eine optimale Ablauf- und Terminplanung, ausreichend Personal, keine Lieferengpässe, einen problemlosen Transport und eine zeitgerechte Verteilung voraus. Noch schneller wird es vermutlich erst gehen, wenn ein Impfstoff in größerer Menge verfügbar ist, der auch in Hausarztpraxen verimpft werden kann. Es hilft derzeit meines Erachtens überhaupt nicht weiter, in dieser Frühphase der Impfaktion schon wieder alles zu kritisieren und auf (vermeintliche) Versäumnisse hinzuweisen. Abgerechnet wird bekanntlich immer zum Schluss, und eine erste belastbare Bilanz über Ablauf und Erfolg der Impfaktion ist vielleicht Ende März möglich. Ermutigend ist für mich, dass Deutschland bereits jetzt im weltweiten Ranking der Länder mit dem höchsten Anteil an Covid-19-Impfungen pro 1000 Einwohner eine Top-Zehn-Platzierung hat. Was wir jetzt brauchen, ist in erster Linie weiterhin Geduld, auch wenn es schwerfällt. Bernhard Lorenz, Ronnenberg Leser Achim Bothmann aus Hannover: „Hinterher ist man immer schlauer“: Es gibt Impfstoffe. Viele Teams sind mit Spritzen in Heimen unterwegs. Impfzentren öffnen nach und nach ihre Türen. Nun wird herumgemeckert, es gehe zu langsam. Leute, wir haben eine Pandemie, wie es sie noch nie gab! Wir navigieren quasi mit einem riesigen Tanker in unbekanntem Gewässer und dazu noch im dichten Nebel. Wir haben keine wirklichen Erfahrungswerte. Aber jeder will und darf seinen Senf dazugeben. In verhältnismäßig kurzer Zeit wurden nun schon unterschiedliche Impfstoffe zugelassen. Deutschland bestellte gemeinsam mit der EU bei einzelnen Herstellern frühzeitig entsprechende Dosen. Zu diesem Zeitpunkt stand nicht fest, wann welches Serum tatsächlich zugelassen wird. Man achtete allerdings darauf, dass die bestellten Dosen für alle EU-Bürger ausreichen. Es sollte keinen nationalen Alleingang geben. Im Nachhinein wird nun sichtbar, dass man mit einer anderen Bestellstrategie vielleicht besser gefahren wäre. Natürlich. Hinterher ist man immer schlauer. Es gibt viele Leute, die vorher nicht sicher waren, was zu tun ist. Sie hatten jedoch keine Verantwortung für bestimmte Entscheidungen zu treffen. Nun kommen sie hinter den Büschen hervor und kritisieren diese Beschlüsse. Natürlich passieren Fehler. Doch aufeinander herumzuhacken bringt gar nichts. Falsche Entscheidungen sind gemeinsam zu analysieren und künftig zu vermeiden. Punkt. Das alles ist ein Prozess. Wie wäre es also, sich einfach mal konstruktiv einzubringen? Achim Bothmann, Hannover Leser Gottfried Leberecht aus Hannover: „Schuldzuweisungen helfen nicht weiter“: Egal ob bei „Hart aber fair“, in diversen, ja fast allen Nachrichtensendungen aller Sender, in den schreibenden Medien – überall herrscht seit der Bemerkung von Lars Klingbeil bereits offener Wahlkampf. Erschreckend ist, dass sich auch der letzte Hinterbänkler unqualifiziert zu diesem brisanten Thema äußert. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Besserwisserei helfen nicht weiter. Das Vertrauen der Bundesbürger in die Handlungsfähigkeit der Politiker und das Vertrauen und Meistern der Pandemie ist zu einem Nebenschauplatz der lautesten Politiker und Medienvertreter degradiert. Lasst doch bitte Fachleute diese gewaltige Herausforderung bewältigen. Gottfried Leberecht, Hannover Leser Helmut Helmers aus Hannover: „Warum nicht genug geordert?“: Zum Kommentar „Mehr Aufbruch, weniger Anspruchsdenken“ vom 5. Januar: In ihrem Kommentar rechtfertigt Frau Dunz die meines Erachtens gar nicht im Mittelpunkt der aktuellen Kritik stehende Entscheidung der Bundesregierung für eine europäische Lösung bei der Impfstoffbestellung. Warum eine Regierung, die eine Impfung permanent als einzig erfolgreichen Weg aus der Pandemie anpreist, aber nicht frühzeitig zusätzliche und ausreichende Lieferkapazitäten von allen aussichtsreichen Impfstoffkandidaten geordert hat – wie das andere Länder getan haben –, hinterfragt sie nicht. Sie fragt auch nicht, warum die deutsche Kanzlerin während ihrer Ratspräsidentschaft zwar selbst nationalen Verzicht anordnet, dem massiven Druck anderer EU-Staaten (wie Frankreich) auf Berücksichtigung eigener (nicht kurzfristig lieferbarer) Produktionen bei der EU Bestellung aber nicht entgegentritt. Solches Verhalten zerstört aber gerade das Vertrauen in die EU. Das steht im krassen Gegensatz zu den emotional präsentierten Aufrufen von Frau Merkel an die Bevölkerung, alles zu tun und zu erdulden, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Solche Probleme anzusprechen widerspricht aber offensichtlich der Intention des Kommentars. Helmut Helmers, Hannover Lesen Sie auch: Lieferengpässe beim Impfstoff in Niedersachsen Leser Udo Schmidtko aus Burgwedel: „Beispiel an Helmut Schmidt nehmen“: In Notsituationen und Krisen zeigen sich (wie mit einer Lupe) besonders deutlich die (Un-)Fähigkeiten und Inkompetenz von Entscheidungsträgern. Vielleicht können sich diese mal ein Beispiel an Helmut Schmidt nehmen, der bei der Hamburger Sturmflut 1962 sofort reagierte und nicht erst eine Arbeitsgruppe damit beauftragte, sich Gedanken zu machen, wie man eventuell das Wasser aufhalten könnte. Diese Pandemiewelle ist größer und gefährlicher. Es ist ein Hohn für alle Betroffenen zu lesen, dass in Niedersachsen am Mittwoch 15 000 Impfdosen zu wenig ankamen und Anfang Januar 63 000 gar nicht geliefert werden (laut HAZ). Vielleicht hilft mal ein Blick nach Israel: knapp neun Millionen Einwohner, 24 Millionen Impfdosen bestellt, bis 80 000 Impfungen täglich, sieben Tage in der Woche rund um die Uhr (laut „Zeit Online“). Und noch etwas Aktuelles für Niedersachsen: Manchmal reichen kleine, aber wirkungsvolle Maßnahmen, um etwas zu verhindern. Helmut Schmidt hätte schnell und unbürokratisch die Zufahrtsstraßen in die höheren Lagen und Schneegebiete im Harz nur noch für Anlieger freigegeben, um zu verhindern, dass Tausende unmaskierte Rodler die Pandemiewelle noch verstärken. Udo Schmidtko, Burgwedel Lesen Sie auch: Bundesländer klagen über Mangel an Corona-Impfstoff Leserin Dr. Claudia Carl aus Hannover: „Mehr sachliche Informationen“: „Bereits am 8. Januar erfolgt die nächste Lieferung, und dann werden 670.000 Dosen pro Woche geliefert.“ So lautet die Mitteilung des Bundesgesundheitsministeriums. Das klingt geradezu euphorisch. Aber hat das Ministerium auch schon ausgerechnet, wie und wann bei diesem Tempo das angestrebte Ziel einer Herdenimmunität, also circa 70 Prozent Geimpfte in der Bevölkerung (nach neuen Erkenntnissen müssen es sogar 80 bis 90 Prozent sein), erreicht werden kann? Wenn jede Person zwei Dosen erhalten soll, dann sind am Ende des Jahres noch nicht einmal die 18 Millionen geimpft, die in den Gruppen der höchsten beziehungsweise hohen Priorität sind. Wann der Impfstoff von Moderna zugelassen wird, steht auch noch nicht genau fest, von den anderen Impfstoffkandidaten ganz zu schweigen. Selbst wenn alles optimal laufen sollte, können so in diesem Jahr nur 40 Millionen Menschen (rund 50 Prozent) in Deutschland geimpft werden. Das ist Fakt, das ist bedauerlich, damit müssen wir leben, und einige auch leider sterben. Das sollte dann auch klar kommuniziert werden – nur so kann die Bevölkerung Vertrauen in die Politik und den Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen haben. Davon sind die meisten Politiker und Politikerinnen leider weit entfernt. Einer der wenigen Politiker, die den Durchblick zu haben scheinen und die Fakten klar benennen, ist Karl Lauterbach. Er hat schon im September vorausgesagt, dass der Winter schwieriger und die Pandemie härter werden würde. Leider wurde nicht auf ihn gehört und ihm Panikmache vorgeworfen. Dieser Politiker hat meine Hochachtung. Mehr klare und sachliche Informationen sind seitens aller Verantwortlichen wünschenswert, die Darstellung der ersten Impfungen als Event ist dagegen überflüssig. Dr. Claudia Carl, Hannover Leser Bernd Schmidt, Hannover: „Warum impfen andere Länder mehr?“: Niedersachsen verzögert Impfungen. In Bayern haben bislang gemäß Meldung des Robert-Koch-Instituts vom 1. Januar fast 38 000 Menschen die erste Impfung gegen das Virus erhalten, in NRW fast 25 000, im kleinen Mecklenburg-Vorpommern rund 11 500. In Niedersachsen bescheidene 3566 Personen. Die Impfquote beträgt in Bayern 0,29, in NRW 0,14 und in Mecklenburg-Vorpommern beachtliche 0,71. In Niedersachsen sage und schreibe nur 0,04 Impfdosen pro 100 Einwohner. Der Leiter des niedersächsischen Krisenstabes, Staatssekretär Heiger Scholz, hat gegenüber dem NDR erklärt, man würde Impfdosen für eine zweite Impfung zurückhalten. Alles andere wäre unverantwortlich. Ist das überzeugend? Warum verimpfen andere Bundesländer ein Vielfaches gegenüber Niedersachsen? Verhalten sich diese gegenüber ihrer Bevölkerung verantwortungslos? Wenn Herr Scholz keine besseren Argumente hat und in Niedersachsen Organisationsmangel und Unfähigkeit vorliegen, muss die Landesregierung dringend personelle Konsequenzen ziehen. Die Öffentlichkeit wartet auf eine Antwort. Bernd Schmidt, Hannover Veröffentlichungen in dieser Rubrik sind keine redaktionelle Meinungsäußerung. Wir behalten uns vor, Leserbriefe zu kürzen. Bei allen Einsendungen bitten wir um Angabe der vollständigen Absenderadresse. Wollen auch Sie uns Ihre Meinung mitteilen? Dann schreiben Sie uns auf diesem Weg. Leser Jürgen Sauß aus der Wedemark: „Keine gleichmäßige Verteilung“: Dieser wie auch viele andere Berichte zur Impfstoffverfügbarkeit suggerieren, dass irgendwann verfügbare Impfstoffmengen weltweit gleichmäßig verteilt werden. Über den Weltmarktpreis einer Impfdosis ist wenig bis nichts verlautet. Ich gehe davon aus, dass die Verfügbarkeit in einzelnen Regionen gemäß Angebot und Nachfrage geregelt wird. Wer mehr zahlt, bekommt früher mehr Impfdosen. Jürgen Sauß, Wedemark Leserin Kirsten Köpge: „Auch logistische Fehler spielen Rolle“: Dass Niedersachsen mit gerade einmal 1,1 Impfungen pro 1000 Einwohner bundesweit das Schlusslicht ist, lässt sich mit der bundesweiten Impfstoffknappheit allein nicht erklären, da andere Bundesländer, wie etwa Bayern und Sachsen-Anhalt, eine deutlich höhere Impfquote aufweisen. Dafür, dass auch logistische Fehler eine Rolle spielen könnten, spricht die Aussage der Vizechefin des Corona-Krisenstabes der Landesregierung. Sie hat den Impfrückstand damit begründet, dass in Niedersachsen die mobilen Impfteams der Impfzentren in Etappen und nicht alle zugleich die Arbeit aufgenommen haben. Dies wirft natürlich sofort die Rückfrage auf, warum etappenweise und nicht zeitgleich in mehreren Einrichtungen geimpft wurde. Hier besteht, gerade in Anbetracht der schweren und oft tödlichen Krankheitsverläufe bei Heimbewohner*innen und auch zum Schutz der betroffenen Pflegekräfte dringend Aufklärungs- und Handlungsbedarf. Kirsten Köpge, Hannover Von HAZ