Schulstart 2020 Hannover: Eltern fürchten um Gesundheit ihrer Kinder

Der bevorstehende Schulstart mit vollen Klassen ohne Abstandsgebot und ohne Maskenpflicht im Unterricht bereitet vielen Eltern Sorge. Sie fürchten angesichts stetig steigender Infektionszahlen um die Gesundheit ihrer Kinder. Sollten vor den Sommerferien nicht mehr als 15 Schüler in einer Lerngruppe zusammen sein, dürfen sie jetzt fast zehnmal so vielen Mitschülern nahe kommen. Denn statt des Abstandsgebots von anderthalb Metern zu anderen gilt jetzt das Kohortenprinzip: Die Schüler sollen jahrgangsweise unter sich bleiben, und da ein Jahrgang meist vier Klassen umfasst, sind das eben im Schnitt 120 Schüler, an größeren Schulen auch mal 180. Im Ganztagsbereich dürfen sogar zwei Jahrgänge gemischt werden. „Lehrer sprechen mit kräftiger, Aerosole produzierender Stimme“: Regionselternratsvorsitzender Wolf Grütter bemängelt, dass es der Landesregierung offenbar zu teuer war, die Hygienemaßnahmen zu verbessern, um die Infektionsgefahr nach Wegfall des Mindestabstands zu kompensieren. „Im Klassenraum sitzen jetzt Schülerinnen und Schüler Schulter an Schulter, aber ohne Mund-Nasen-Schutz“, sagt Grütter, „den muss auch die Lehrkraft nicht tragen, die mit kräftiger, Aerosole produzierender Stimme Richtung Schüler sprechen muss.“ Schutz für die Kinder und ihre Familienangehörige hätte eine Acrylwand geboten, aber die sei dem Land offenbar zu teuer gewesen. Tische werden zwischendurch nicht gereinigt: Im eingeschränkten Regelbetrieb, wie ihn Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) im neuen Schuljahr plant, gelte auch nicht mehr, dass ein Klassenraum nur noch von einer Lerngruppe genutzt werden dürfe. Eine tägliche Reinigung der Tische nach Schulschluss werde vom Land aus als ausreichend erachtet, eine Reinigung zwischendurch sei offenbar nicht vorgesehen. Durchlüften mit Fenstern auf Kipp? Auch Querlüftung sei mit Fenstern in Klassenräumen, die sich aus Sicherheitsgründen allenfalls ankippen lassen, nicht möglich, sagt Grütter. Und je kälter es in den nächsten Monaten werde, desto schwerer sei die dauerhafte Lüftung ohnehin umzusetzen, klagen andere Elternvertreter. Für Susanne Flatt, Mutter aus Bad Nenndorf, ist es unverständlich, dass das, „was uns einigermaßen gut durch die vergangenen Monate gebracht hat – nämlich das Abstandsgebot – ausgerechnet in den Schulen wegfallen soll“. Sie habe „ein ganz mieses Gefühl“ angesichts des Schulstarts am Donnerstag, sagt die Mutter einer Gymnasiastin. Sie befürchtet „chaotische Zeiten“, wenn die ersten Klassen und Jahrgänge in Quarantäne müssten. Schülervertreter klar gegen Maskenpflicht im Unterricht: Eine Maskenpflicht im Unterricht lehnt die Mutter klar ab, genauso wie der Landesschülerrat. Den Schülern sei es nicht zuzumuten, stundenlang in geschlossenen Räumen eine Maske zu tragen. Kindern könne schwindelig werden, mündliche Beteiligung am Unterricht sei so nahezu unmöglich. Auch der Landesschülerrat meint, im Zweifel sei Unterricht im Wechselmodell wie vor den Sommerferien besser als Maskenpflicht in den Schulstunden. Wichtig sei auch die schulinterne Demokratie in diesen Fragen, betont Schülervertreter Ole Moszczynski. Schüler, Eltern und Lehrer müssten in die Entscheidungen der Schulleitungen eingebunden werden, nur so könne man Lösungen finden, die allen gerecht würden. „Mit dem Schulstart in voll besetzten Klassen geht das Kultusministerium ein großes Wagnis ein“, meint Ole Moszczynski vom Landesschülerrat. Gerade die Reiserückkehrer seien ein unberechenbares Risiko, das schon direkt zu ersten Schließungen führen könnte. Warum bleibt es nicht bei kleinen Lerngruppen? Eltern kritisieren, dass die positiven Erfahrungen aus der Corona-Zeit, nämlich die guten Lernergebnisse in halbierten Klassen und die Chancen des Homeschoolings, nicht weiter genutzt werden. Susanne Flatt sagt, dass in kleineren Lerngruppen sich stillere Schüler viel mehr beteiligten und Lehrkräfte sich auch mehr um den Einzelnen kümmern könnten. Besser wären differenzierte Modelle: Gerade Jugendliche kämen mit wechselweisem Lernen zu Hause gut zurecht, während an Grundschulen mehr Präsenzunterricht nötig sei. Es wäre schön, wenn Eltern selbst entscheiden könnten, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken wollten oder nicht. Mitte August hat Flatt ihre Sorgen in einem Brief an Kultusminister Tonne formuliert. Eine Antwort hat sie darauf bislang nicht erhalten. „Laute, volle Klassen sind nicht jedermanns Sache“: Auch eine andere Mutter aus Göttingen weist darauf hin, dass die Corona-Zeit für ihren Sohn, der früher unter Schulangst litt und dem der Lärm und die aggressiven Mitschüler zuviel waren, eine gute Zeit war. „Es gibt Kinder, die darunter leiden, in einer Schule der permanenten Überstimulation ausgesetzt zu sein. Über Stunden und ohne Rückzugsmöglichkeiten Teil einer großen Gruppe zu sein ist nicht jedermanns Sache.“ Schule in der vor Corona bewährten Form könne Kinder krank machen. Lehrerverbände befürchten „holprigen Schulstart“: Auch die Lehrerverbände fürchten einen holprigen Schulstart. „Wir wissen nicht, wie viele Lehrer für den Präsenzunterricht zur Verfügung stehen“, sagt Horst Audritz vom Philologenverband, „die Unterrichtsversorgung hakt an allen Ecken und Enden, für den Fernunterricht fehlt oft noch immer die notwendige digitale Ausstattung.“ Allein auf Selbstlernen zu setzen und auf Anforderungen zu verzichten sei der falsche Weg. Der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte fordert einen Dienstlaptop für alle Lehrer und flächendeckende Corona-Tests für Pädagogen. Die Maskenpflicht in der Schule müsse praktikabel sein, aber auch eine Schutzfunktion haben, sagt Verbandsvorsitzender Torsten Neumann. Unrealistisch sei das Versprechen des Ministers, neben dem Pflichtunterricht auch Ganztagsangebote vorzuhalten. Dafür fehlten gerade an Haupt-, Real- und Oberschulen die Lehrkräfte. 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