Sind die Kirchen überflüssig? Theologe Gerhard Wegner entfacht Diskussion unter HAZ-Lesern

Leser Dieter Schrader aus Hannover: „Ein rechtes Wort für fragende Menschen“: Recht hat er! Und mutig ist der Oberkirchenrat Wegner auch, den von ihm beobachteten Zustand der Kirche – oder sollte man besser hinzufügen: der Kirchen? – so zu beschreiben, wie er es getan hat. Ihre Zeitung hat zu Beginn der Pandemie ein Wort der Kirchen zum Thema Corona angemahnt, weil Sie und viele andere Menschen ein geistliches Wort vermissen würden. Daran hat sich leider nichts geändert, und insofern hat Wegner recht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die „Gesellschaft“ und die „Kirchen“ sind allgemeine Begriffe, die je nach politischen oder religiösen Standpunkten gefüllt werden. Es geht aber um das Verhältnis jedes einzelnen Menschen zu Gott und zu seinem Sohn Jesus Christus! Und da stimmt Wegners Aussage nicht. Auch die Menschen unserer Tage brauchen ein persönliches Verhältnis zu Gott und zu Jesus Christus. Wir haben gerade zwei wichtige Feste der Christenheit gefeiert: Karfreitag und Ostern.Ist es nicht merkwürdig, dass von einer christlichen Partei und deren Kanzlerin eine „Osterruhe“ vorgeschlagen wurde? Der Anlass mag begründet gewesen sein, aber ausgerechnet Ostern und die anderen kirchlichen Festtage für diese Maßnahme auszuwählen, zeigt, wie wenig Fingerspitzengefühl in der Regierung vorhanden gewesen sein muss. Lesen Sie auch Theologe Gerhard Wagner im Interview: „Die Gesellschaft braucht die Kirchen nicht mehr“ Und die Kirche? Sie schwieg oder gab lauwarme Erklärungen ab. Und da hat Wegner recht, so etwas brauchen die Menschen nicht. Ein Blick in die Bibel hätte genügt, um ein rechtes Wort für fragende Menschen zu finden. Es gibt sie aber noch, die Pastoren und Priester, die das tun! Und diese Kirche brauchen wir. Dieter Schrader, Hannover Leser Matthias Grießhammer aus Hannover: „Sinnstiftende Funktion“: Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass der Theologieprofessor Gerhard Wegner sich eine Erneuerung der Kirche wünscht und sie keineswegs für sinn- und nutzlos hält, wie es die provokative Überschrift des Beitrages suggeriert. Warum aber muss er sich zu Beginn des Gespräches so drastisch äußern, dass alle kirchenfeindlichen Kräfte in der Gesellschaft sich vor Lachen auf die Schenkel schlagen nach dem Motto: „Seht her, der Herr Theologieprofessor hält seinen eigenen Laden für überflüssig!“ So eine Haltung am Gründonnerstag groß in der Tageszeitung aufzumachen, muss die Gefühle von vielen Menschen verletzen, die trotz allem Bedeutungsverlust sich immer noch zur Kirche und dem von ihr verkündeten Glauben an Jesus Christus bekennen. Natürlich hat die Kirche heute nicht mehr die gesellschaftliche Relevanz wie zu Zeiten Martin Luthers. Aber das ist doch längst jedem bekannt. Dennoch halten immer noch viele Menschen zur Kirche und sehen in ihrer Botschaft eine sinnstiftende Funktion für ihr Leben. Keineswegs ist es so, dass die Kirche in der Corona-Krise nur einen lieben Gott verkündet und gegenüber der Katastrophe rat- und sprachlos dasteht. Durchaus wird in vielen Gottesdiensten, Bibelstunden und Gesprächsgruppen in den Gemeinden immer wieder der Frage nachgegangen: Wo bist du, Gott? Warum lässt du das alles zu? Was willst du uns damit sagen? Aber wer meint, auf diese schwere Frage eine einfache Antwort geben zu können, der irrt sich. Matthias Grießhammer, Hannover Leser Manfred Handke aus Hannover: „Menschen sind zu weit weg von der Kirche“: Gerade in der Auseinandersetzung mit der Corona-Krise hat sich die Kirche als eine unverzichtbare Institution gezeigt, die Halt und Hoffnung, Trost und Zuversicht vermittelt. So kann ich nicht die Ansicht von Herrn Wegner teilen, dass „die Kirche zu weit weg von den Menschen ist“ – nein, der Mensch ist zu weit weg von der Kirche! Wer heute regelmäßig Gottesdienste besucht, wird deutliche Veränderungen wahrgenommen haben, die beweisen, dass sich die Kirche als gesellschaftliche Institution regelmäßig in ihren Predigten mit aktuellen Themen auseinandersetzt. Vieles, was heute an traditionellen Werten und Normen infrage gestellt wird, wird von der Kirche durchaus kritisch hinterfragt, und Lösungsansätze für das eigene Verhalten werden geboten – nicht nur aus kirchlicher Sicht, sondern für jeden Menschen als Mitglied einer verantwortungsvollen Gemeinschaft. So halte ich die pauschale Feststellung, dass die Kirchen für die Gesellschaft nicht notwendig sind, für ketzerisch und falsch: Kirchen leisten zu jeder Zeit wertvolle Beiträge! Doch Menschen, die sich auf den Standpunkt stellen, dass „ein lieber Gott nur noch zum Gute-Nacht-Sagen für Kinder da ist, die sich vor dem Einschlafen ängstigen“, wird die moderne Kirche, so wie ich sie kenne und schätze, nicht erreichen. Manfred Handke, Hannover Leserin Dagmar Schloz aus Hannover: „Die Kirchen experimentieren“: Was war das denn? Der leere Hildesheimer Dom, der sich bis zur Corona-Pandemie doch so großer Besucher-Beliebtheit erfreute, und die Überschrift in extra großen Lettern, eine starke These und ein gefundenes Fressen für den kirchenfernen Teil unserer Gesellschaft! Klar, dass damit das Interesse einer breiten Leserschaft geweckt wurde. Was Herr Wegner sagt, ist, wie er selber zugibt, provokativ – und ignoriert Tatsachen. Hätte der Interviewer ihn durch gezielte Fragen dazu gebracht, die Schwachstellen seiner Erläuterungen zu klären, hätte vielleicht etwas Hilfreiches entstehen können; so bleiben eigentlich nur Fragen. Warum muss man Corona „religiös interpretieren“? Und wieso wäre es schrecklich, wenn Corona „nur als Naturereignis“ gesehen wird? Beide, Interviewer wie Interviewter, wollen keinen „lieben Gott zum Gute-Nacht-Sagen“, auch keinen „um seine Rätselhaftigkeit reduzierten“ Gott – aber wer will schon so einen? Wieso ist Gott damit aber ganz verschwunden, wieso soll es kein Gegenüber zum Klagen, zum Trauern im Angesicht von Corona mehr geben? Von der Aktion Licht-Fenster, von der Einladung des Bundespräsidenten an Corona-Trauernde oder von der hannöverschen Initiative des wöchentlichen Trauergedenkens in der Aegidienkirche weiß Herr Wegner offenbar nichts. Klar, dass ihm so der für April vorgesehene Staatsakt für die Corona-Toten in Deutschland nicht ausreicht! An den „vielen eigenständigen, aktiven Menschen und Kirchengemeinden, die selbst kreativ tätig werden“, bemängelt er, „insgesamt könnte alles eine Nummer agiler und flexibler werden“. Dabei gibt es in der gleichen HAZ-Ausgabe äußerst flexible Angebote der Kirchen für den Karfreitag, die zeigen, dass die Kirchen nicht „im vorauseilenden Gehorsam zu Ostern ihre eigenen Pforten geschlossen“ haben. Sicher bedarf es der Veränderung, aber da sind die Kirchen doch fleißig beim Experimentieren, angespornt durch Corona! Dagmar Schloz, Hannover Leser Roland Fritzsche aus Hannover: „Aussage ist zu pauschal“: Die Aussage, für die Gesellschaft seien die Kirchen nicht notwendig, ist zu pauschal. Für die Austritte und Abwendung von kirchlichen Angeboten gibt es Gründe, die nicht gegen die Kirchen als gesellschaftlich relevante Institutionen sprechen. Ich kenne keine Aussage von evangelischen Bischöfen, dass die Pandemie nichts mit Gott zu tun hat. Roland Fritzsche, Hannover Leserin Sibylle Weitkamp aus Laatzen: „Kirchen sind Zufluchtsorte“: Die Gesellschaft braucht die Kirchen sehr wohl noch, um den Menschen Werte und Normen zu vermitteln, an denen sie sich orientieren können, um sich von der Egozentrik, der Spaßgesellschaft und dem Konsumrausch abzuwenden. Gerade in der Zeit der Pandemie sind die Kirchen Zufluchtsorte, Räume der Kontemplation und Meditation. Die Kirchen sind geöffnet, um auszuruhen und Einkehr zu halten. Sie halten auch in dieser Zeit Gottesdienste, musikalische Andachten und Messen ab, sowohl präsent als auch digital. In allen Gottesdiensten wird der Corona-Toten gedacht. In der Ruine der Aegidienkirche wurden seit Ende Februar freitags Gedenkandachten gehalten, bei denen die Anwesenden Kerzen auf den Altar gestellt haben, um an die an Corona-Verstorbenen zu denken. Ich finde es bedauerlich, dass Herr Wegner nicht versucht, die Menschen wieder an die Kirche und die Religion heranzuführen. Sibylle Weitkamp, Laatzen Veröffentlichungen in dieser Rubrik sind keine redaktionelle Meinungsäußerung. Wir behalten uns vor, Leserbriefe zu kürzen. Bei allen Einsendungen bitten wir um Angabe der vollständigen Absenderadresse. Wollen auch Sie uns Ihre Meinung mitteilen? Dann schreiben Sie uns auf diesem Weg. Leser Ulrich Saloga aus der Wedemark: „Die Menschen brauchen Gott“: Herr Wegner vertritt die These, „die Gesellschaft braucht die Kirchen nicht mehr“. Dem möchte ich widersprechen – und vermute, dass der Herr im vergangenen Jahr keinen Kontakt zur Kirche gesucht hat. Sonst hätte er bemerkt, wie unendlich viel seelsorgerische Arbeit geleistet wurde und noch wird. Da ich in der Wedemark wohne, möchte ich für die dortige Gemeinde sprechen, deren Arbeit ich beobachte. Unser Pfarrer war der Einzige, der sofort beim ersten Lockdown einen Einkaufsdienst organisiert hat. Mit Jugendlichen, ohne Hilfe der Gemeinde. Sie haben mit dem Fahrrad eingekauft, obwohl Betriebe stillstanden und Hunderte Firmenfahrzeuge verfügbar gewesen wären. Ehrenamtliche haben die Arbeit der Tafel weitergeführt, die sonst eingestellt worden wäre. Bis heute wird die Kirche tagsüber für ein Gebet geöffnet. Es werden Tüten gepackt für einen Gottesdienst zu Hause. Regelmäßig finden Gottesdienste per Videokonferenz statt – mit mehr Teilnehmern, als normalerweise in der Kirche wären. In Elze wurde ein Radiosender aufgebaut zur Übertragung, aus Spendengeldern. Trotz Einnahmeausfällen wird für Patengemeinden in anderen Ländern gesammelt, für das Flüchtlingsschiff der evangelischen Kirche im Mittelmeer, alte Handys für die Seelsorge, Altkleider für Bethel. Ehrenamtliche engagieren sich ohne Entlohnung in vielfältiger Weise. Das soll alles in unserer Gesellschaft nicht gebraucht werden? Nicht Gott hat die Pandemie gemacht! Es sind Menschen, die egoistisch Partys feiern, nach Mallorca fliegen, beim ersten Schnee den Harz überfluten und am Maschsee klönen müssen. Wie können wir Gott den Vorwurf machen, er schade uns damit? Wieso soll Gott die Suppe auslöffeln, die wir uns selber eingebrockt haben? Gott braucht uns nicht, wir brauchen Gott, auch Herr Wegner. Ulrich Saloga, Wedemark Von HAZ