Staatsoper Hannover: Cássia Lopes arbeitet nun als Hörakustikerin

Es ist der 26. Mai 2018. An jenem Abend steht eine der letzten Vorstellungen des Balletts „Der Besuch“ nach Dürrenmatts gleichnamigen Drama in der Staatsoper Hannover auf dem Programm. Cássia Lopes steht in einem Pelzmantel am oberen Treppenabsatz und schaut streng auf die Tänzerinnen und Tänzer unter ihr herab. Unter dem edlen Kleidungsstück blitzt ein rotes Kleid hervor. Sie verkörpert die von Jörg Mannes für sie maßgeschneiderte Choreografie der Rolle der Claire Zachanassian – damals, als es noch keine Corona-Pandemie gab und das Opernhaus noch voll besetzt sein durfte. Mit eiskalten Blick schreitet sie die Treppe herunter. Ehrfürchtig weichen ihr die anderen Tänzer aus. In dieser Rolle, mit der sie die Zuschauer in den Bann zog, ist sie bei vielen Ballettfans in Hannover wohl noch in Erinnerung. Dazu hat sie etwas geschafft, was nur wenigen Profitänzerinnen und Tänzern vergönnt ist. Mit 47 Jahren tanzte die Brasilianerin noch in Spitzenschuhen auf der Bühne. Neubeginn als Umschülerin: Zweieinhalb Jahre später steht Cássia Lopes in einer Filiale des Hörgerätefachgeschäfts Kind. An ihre Zeit als Ballerina erinnern neben ihrem strahlenden Lächeln auch ein Paar rote Ohrringe, das sie auch auf der Bühne als Claire Zachanassian trug. Es war ein Abschiedsgeschenk von einer Kollegin aus der Ballettcompagnie, erzählt sie. Mit dem Ende der Intendanz von Michael Klügl im Sommer 2019 hat sie ihre Karriere als Tänzerin beendet und musste sich einen neuen Beruf suchen. Viele ehemalige Tänzerinnen und Tänzer werden nach ihrer Bühnenkarriere selbst Tanzlehrer oder Choreografen. Aber Cássia Lopes wollte etwas Neues probieren. Sie wird vom Profi wieder zu einer Anfängerin. „Ich wollte die Chance nutzen und etwas ganz anderes lernen. Ich bin schon immer sehr neugierig gewesen“, erzählt sie. Seit drei Monaten macht Cássia Lopes deswegen eine zweijährige Umschulung zur Hörakustikerin. Es ist ein beruflicher Neubeginn im Alter von fast 49 Jahren. Mehrere Jahrzehnte auf der Bühne liegen hinter ihr. Sie tanzte an verschiedenen Theatern in Deutschland, an der berühmten Wiener Staatsoper und zuletzt an der Staatsoper Hannover. Angst vor der Zukunft: Dennoch wusste sie zunächst nicht, wie es weitergehen soll. „Als die Tanzkarriere vorbei war, hatte ich doch ein bisschen Angst. Meine Kinder sagten ’Mama, du kannst so vieles, warum sollst du das nicht hinkriegen?’“. Zuspruch bekommt sie auch von einer Beraterin bei der Arbeitsagentur, die für sie zunächst den Besuch einer Vorbereitungsschule für Umschüler organisiert. Für fünf Monate geht es für die Tänzerin zurück auf die Schulbank. Das stellt sich als Glück heraus. Denn ihre Klassenlehrerin empfiehlt ihr die Ausbildung zur Hörakustikerin. Sie erkennt, dass die ehemalige Tänzerin auch bei ihrer neuen Beschäftigung kreativ arbeiten und viel mit Menschen zu tun haben sollte. Lopes ist interessiert und bewirbt sich für ein Praktikum. Am Morgen ihres ersten Arbeitstags wird sie nervös. “Ich habe zu meinem Mann gesagt ‚ich glaub, ich will nicht.’ Nach dem ersten Tag war ich ein anderer Mensch“, erzählt sie überschwänglich. Sie habe sich zwischen den neuen Kolleginnen und Kollegen sofort wohlgefühlt und eine neue Gemeinschaft gefunden. „Sie sind eine Familie, wie beim Tanz.“ Parallelen zwischen Bühne und Handwerksbetrieb: Und sie ist beeindruckt davon, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen viele rechnerisch ihre Kinder sein könnten, schon so viel Verantwortung für die Gesundheit ihrer Kunden tragen. Obwohl sich die Arbeit in einem handwerklichen Betrieb und am Theater stark unterscheiden, stellt sie Parallelen fest. Sie erlebt, wie eine Kundin anfängt zu weinen, als eine Mitarbeiterin ihr ein Hörgerät eingesetzt und sie wieder alles verstehen kann. „Ich habe die Leute vorher mit Tanz mit dem Sehen berührt, jetzt berühre ich sie emotional auf andere Art: mit dem Hören“, meint Lopes. Doch noch steht sie am Anfang ihrer Ausbildung und darf nur zusehen, wenn ein Hörgerät angepasst wird. In der kleinen Werkstatt im ersten Stock der Filiale übernimmt sie jedoch schon Aufgaben. Dort setzt sie sich eine Schutzbrille und Maske auf und nimmt eine Fräse zur Hand. Damit bearbeitet sie einen Rohling, der mal das Verbindungsstück zwischen dem Hörgerät und Ohr sein soll. Ihre Ausbilderin Marleen Herzig schaut ihr über die Schulter. Als Balletttänzerin widerspricht man nicht: Neben der Arbeit ist auch die Kommunikation im Betrieb anders, als sie es vom Theater kennt. „Im Tanz sind die Hierarchien sehr steif und erwünscht. Da widerspricht man selten dem Ablauf und macht, was der Chef sagt. Da hat man mich schon manchmal als Rebellin und verrückt bezeichnet, wenn ich etwas gesagt habe“, erinnert sie sich. Bei ihrem neuen Arbeitgeber lernt sie eine völlig andere Arbeitsweise kennen. „Hier wird es begrüßt, wenn ich die Initiative ergreife. Das gibt mir das Gefühl, ich bin hier richtig“, sagt sie mit begeistert klingender Stimme. Dabei ist Lopes doppelt so alt wie ihre neuen Vorgesetzten. Für ihre Chefs ist die Lebenserfahrung der Tänzerin eher ein Vorteil. „Es ist natürlich etwas anderes, weil sie reifer ist. Sie traut sich schneller, Aufgaben zu übernehmen. Zum Beispiel ans Telefon zu gehen. Da hatte sie gar keine Berührungsängste“, erzählt Herzig. Gesundheitliche Schäden durchs Tanzen: Doch Lopes muss sich auch umstellen. Statt körperlich zu arbeiten, sitzt sie nun während des Unterrichts an der Berufsschule stundenlang vor Büchern oder dem Computer. An der Oper trainierte sie hingegen acht Stunden täglich. Mit Pliés, Jetés und Développés fing jeder Morgen an. Disziplin und das Streben nach Perfektion machten ihr Leben aus. Nun spürt sie die Folgen ihrer anspruchsvollen langen Karriere. „Ich habe meinen Körper sehr kaputt gemacht. Den Rücken, die Knie.“ Sie tanze nun überhaupt nicht mehr, sondern mache nur Dehnübungen und fahre Fahrrad. „Ich muss für mein eigenes Wohlbefinden ein bisschen Abstand zum Tanzen nehmen.“ 14 Kilo habe sie seit dem Ende ihrer Zeit als Ballerina zugenommen. Sie ist trotzdem dankbar, für das, was sie erreicht hat – auch wenn sie nun die Folgen davon spürt. Auch die Bühne vermisst sie nicht. „Man lebt nicht nur vom Applaus. Ich bekomme zurzeit die Anerkennung anders gezeigt. Erfolg ist nicht, was andere von dir denken. Es ist, was du selbst von dir denkst“, sagt sie und lächelt. Lesen Sie auch: Sehnde: Balletttänzer Ahmed Ezzat ist jetzt Baumpfleger Premiere mit viel Beifall: „Carmen“ an der Staatsoper Hannover Von Inga Schönfeldt