Tödliches Unglück in Hannover: So sollten Eltern mit ihren Kindern über den Vorfall reden

Das Unglück am Braunschweiger Platz ist bei Jugendlichen in Hannover ein viel diskutiertes Thema, längst nicht nur bei denen, die benachbarte Schulen besuchen. Wie sollen Eltern mit Kindern über den tragischen Vorfall sprechen? Die HAZ hat bei Uwe Brandes, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut im Winnicott-Institut, und bei Friederike Dushe vom Verband der Schulpsychologen in Niedersachsen nachgefragt. Wie können Eltern mit ihren Kindern über den Vorfall an der S-Bahn-Strecke reden? „Auf alle Fälle nüchtern und sachlich, auch wenn sie selbst innerlich sehr betroffen sind“, rät Uwe Brandes, Therapeut vom Winnicott-Institut. Aus Anteilnahme dürfe nicht Hysterie werden, man dürfe sich nicht gegenseitig emotional hochschaukeln. Wichtig sei es, zuzuhören und die Fragen der Kinder so gut wie möglich zu beantworten. Eine zuhörende Haltung sei besser als eine mitteilsame. Welche Fehler darf man bei dem Gespräch nicht machen? „Man kann eigentlich nichts falsch machen, wenn man mit Kindern darüber redet, es sei denn, man tabuisiert es“, sagt Friederike Dushe vom Verband der Schulpsychologen in Niedersachsen. Eltern sollten jetzt für ihre Kinder da sein: „Je jünger, desto mehr, aber auch für ältere Kinder gilt: Man sollte sie jetzt möglichst wenig Zeit allein zu Hause lassen.“ Gemeinsame Mahlzeiten seien zwar nicht mehr so modern, aber in solchen Zeiten entscheidend, mindestens ein Elternteil sollte beim Frühstück, Mittagessen und Abendbrot anwesend sein. Mütter und Väter, die sich zu Hause im Hintergrund bereithielten, vermittelten ein Gefühl von Sicherheit und gäben Tagesstruktur. Und Eltern bekämen mit, was ihr Kind brauche. Wie lange sollten Eltern ihre Kinder möglichst wenig allein lassen? Dushe empfiehlt einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen. Je näher sich ein Jugendlicher den verunglückten Schülern fühle, desto angegriffener könne er sein. Dabei könne Nähe unterschiedliche Bedeutungen haben – zum Beispiel, dass die Opfer direkte Klassenkameraden sind oder dass der Unfallort auf dem Schulweg liegt. Oder ein Jugendlicher sieht sich selbst in einer vermeintlich ausweglosen Lage. Manche Schüler reagierten mit Appetitlosigkeit, andere hätten Schlafprobleme. Welche seelischen Auswirkungen kann der Tod der Jugendlichen auf Gleichaltrige haben? „Es können sich Ängste entwickeln“, sagt Brandes. Jugendliche könnten Angst um ihre Mitschüler bekommen, die sich in ähnlich verzweifelten Situationen befinden. „Solche Sorgen muss man als Eltern ernst nehmen“, betont Brandes. Die Schüler sollten sich auf jeden Fall einem Erwachsenen anvertrauen – das gelte auch, wenn sie sich selbst das Gefühl hätten, in einer ausweglosen Situation zu stecken. Wenn eine 14-Jährige ihrer Freundin von ihrem Leid und ihren Depressionen erzähle, dann sei die Freundin damit überfordert. Es sei kein Petzen, wenn sich die Freundin dann hilfesuchend an Erwachsene wende, sagte Dushe. Fällt es Jugendlichen nicht leichter, mit Freunden zu reden, die in ähnlichen seelischen Nöten sind? „Wenn man im gleichen Alter ist, kann man sich nicht helfen, da der Abstand fehlt“, sagt Brandes. Ein Erwachsener habe die Pubertät schon durchlebt und könne wegen seiner Lebenserfahrung Ratschläge geben, die ein Gleichaltriger nicht erteilen könne. Grundschulkinder würden vermutlich am ehesten Halt bei ihren Eltern suchen, sagt Dushe, weil Eltern für sie die Größten und Stärksten seien. Jugendliche, die in einem Ablösungsprozess von ihren Eltern stecken, erwarteten von ihnen vermutlich gar keine Hilfe, sondern könnten sich vielleicht eher an Lehrer, Sporttrainer, vielleicht auch an die Oma, Tante oder einen Pastor wenden. Und dann seien da auch noch anonymere Beratungsstellen, wie etwa die Telefonseelsorge als mögliche Ansprechpartner. Wenn Schüler aus Angst, dass sie Zeuge eines solchen Unglücks werden könnten, nicht mehr Bus und Bahn fahren wollen: Sollen Eltern sie dann lieber mit dem Auto zur Schule bringen? Auf keinen Fall, meint Brandes. „Realität hilft.“ Dem Ort oder der Situation auszuweichen helfe nicht. Man müsse den Kindern vermitteln, dass solche Unfälle so gut wie nie passierten. Und wie verhalten sich Eltern richtig, wenn sie merken, dass ihre Kinder gar nicht über den Vorfall reden wollen? Man solle Gesprächsbereitschaft signalisieren, sagt Brandes, aber seiner Tochter oder seinem Sohn auf keinen Fall ein Gespräch aufzwingen. „Es kann auch gut sein, dass man erst mal darüber schweigt.“ Eltern sollten Jugendliche auch vor Suizidforen im Internet warnen. Man dürfe derartige Foren nicht verleugnen, sondern müsse sie als das darstellen, was sie seien, nämlich etwas Gefährliches. Schülerinnen und Schüler, die Hilfe bräuchten, sollten lieber mit jemandem direkt sprechen, sagt Brandes, statt im Web Gleichgesinnte zu suchen: „Ein Internetchat kann keine Hilfe leisten.“ Wie trauern Jugendliche? Ganz unterschiedlich, jeder auf seine eigene Art. Gerade Jungen hätten oft Probleme, ihre Gefühle zu zeigen, sagt Dushe. Weinen sei nicht cool, manchmal seien gemeinsame Aktionen wie Pizza backen hilfreich. Oder auch Ablenkungen wie Filme gucken, Musik hören. Andere Jugendliche suchten spirituelle, religiöse oder philosophische Hilfe. Und einige sammelten alle möglichen Informationen und Medienartikel zu dem Unglück, um die Erfahrung zu verarbeiten. Sollten Kinder jetzt lieber nicht zur Schule gehen? Doch, unbedingt, sagt Dushe. Die Gemeinschaft mit der Klasse sei wichtig. „Nichts wäre falscher, als die Kinder allein zu Hause zu lassen, und die Eltern gehen arbeiten.“ Diese Telefon-Hotline ist kostenfrei und 24 Stunden am Tag zu erreichen: 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222 0800 - 111 0 333 (für Kinder / Jugendliche) Per Email oder Chat: unter www.telefonseelsorge.de In vielen Chatgruppen tauschen sich Jugendliche schon über den Vorfall an der S-Bahn-Strecke aus. Sollten Eltern das unterbinden? Nein, raten die Experten. Das Bedürfnis nach Austausch sei bei den Schülern riesengroß, und da man sich in der Corona-Zeit nicht in großen Gruppen zum Reden treffen dürfe, nutzten die Jugendlichen stattdessen soziale Medien, sagt Brandes. Eltern sollten nur aufpassen, wie sich die Kinder in den Chats austauschen. Sie dürften sich nicht zu sehr in das Thema hineinsteigern. Snapchat, Whatsapp und Instagram seien heutzutage das, was früher die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht gewesen sei, sagte Psychologin Dushe. Davon dürfe man Schüler nicht abschneiden. „Man darf den Kindern auf keinen Fall das Handy wegnehmen“, betont Dushe, „man muss ihnen aber vielleicht noch mal zeigen, wo der Ausschaltknopf ist.“ Lesen Sie auch: „Ich wünsche uns viel Kraft“: Schule reagiert auf Unglück am Braunschweiger Platz Tödliches Unglück in Hannover: Die 14-jährigen Mädchen kommen von der Sophienschule Von Saskia Döhner