Nicht nur im Landtag ist nun ein Streit darüber entbrannt, wie man die Radikalisierung des Mädchens hätte stoppen müssen.
Mitte Januar war die 15-Jährige in die Türkei gereist. Ihre Mutter hatte sie daraufhin bei der Polizei als vermisst angezeigt und erklärt, sie vermute, dass das Mädchen sich dem IS anschließen wollte. Der Mutter selber gelang es dann aber, ihre Tochter zu einer Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. „Spätestens mit dem Bekanntwerden ihrer Reisepläne in das syrische Kriegsgebiet hätten bei den Behörden alle Alarmglocken schrillen müssen“, kritisiert der Landtagsabgeordnete Jens Nacke (CDU).
Die Staatsanwaltschaft hat nach der Rückkehr gegen die 15-Jährige ein Verfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat eingeleitet – der Verfassungsschutz sah gleichzeitig aber keinen Anhaltspunkt für eine Beobachtung. Das habe möglicherweise mit dem von Innenminister Boris Pistorius (SPD) und der rot-grünen Koalition geschaffenen Klima zu tun, vermutet Nacke – schließlich habe die Landesregierung zu diesem Zeitpunkt noch das Ziel verfolgt, die Beobachtung von unter 16-Jährigen zu verbieten. SPD-Innenexperte Ulrich Watermann weist das zurück: „Nach dem jetzigen Wissensstand haben die niedersächsischen Sicherheitsbehörden richtig gehandelt.“ Die entscheidenden Fehler seien früher gemacht worden. „Die Grundlagen für die Radikalisierung des jungen Mädchens liegen im Jahr 2008“, als Safia S. sich zusammen mit dem Hassprediger Pierre Vogel filmen ließ. Damals hätte man ihren familiären Hintergrund ausleuchten müssen.
Über vier Stunden tagten Innen- und Verfassungsschutzausschuss am Freitag hinter verschlossenen Türen, um sich von Polizei und Verfassungsschutz über die Hintergründe der Tat informieren zu lassen. Auch aus Sicherheitskreisen kommt Kritik am Verhalten der Verfassungs- und Staatsschützer. Spätestens nach der Rückkehr hätten die Behörden vorbeugende Schritte einleiten müssen. Hier zeigten sich Sicherheitslücken und Defizite von Verfassungsschutz und Polizei in der Prävention von Islamismus, sagt ein Experte, der namentlich nicht genannt werden möchte. Dass auch Jugendliche als Terrorhelfer missbraucht würden, sei spätestens seit dem Auffliegen der sogenannten Sauerlandgruppe im Jahr 2007 bekannt. Damals war ein 14-Jähriger in die Türkei gereist und hatte Zünder für eine Bombe nach Deutschland geschmuggelt. Der Verfassungsschutz habe offensichtlich keine Zugänge mehr in den Deutschsprachigen Islamkreis in der Kornstraße – einen bekannten Treffpunkt für Islamisten in Hannover.
„Jedes Kind, das wir verlieren, ist zu viel“
Auch die Islamische Religionsgemeinschaft DITIB-Niedersachsen und der Landesverband der Muslime, die Schura Niedersachsen, kritisieren im Fall von Safia S. die Behörden. „Seit drei Jahren betreiben wir eine Präventionsstelle, wo sich Eltern, Lehrer, aber auch Schüler informieren können“, sagt Avni Altiner, Vorsitzender der Schura Niedersachsen. „Dass ein Kind mit 15 Jahren allein in die Türkei reist, können wir nicht verhindern und es ist auch nicht unsere Aufgabe.“ Dennoch sehen Altiner und der DITIB-Vorsitzende Yilmaz Kiliç, deren Landesverbände 99,5 Prozent aller Muslime in Niedersachsen vertreten, es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu verhindern, dass sich Jugendliche radikalisieren. „Das ist schließlich auch ein Phänomen, das es nicht nur bei Muslimen gibt“, sagt Kiliç. Die jungen Menschen, die sich radikalisierten, ganz gleich ob durch Salafisten oder Neonazis, eint nach Ansicht von Kiliç ein Aspekt: „Sie fühlen sich verloren oder einsam und suchen Schutz“, sagt er. Aufgabe der Gesellschaft sei es, zu verhindern, dass sie diesen bei den Extremisten fänden. „Jedes Kind, das wir verlieren, ist eines zu viel“, so Kiliç. jki
Von Tobias Morchner und Heiko Randermann