Vor 100 Jahren wurde Linden zu Hannover eingemeindet

Mit so einer verrückten Idee brauchte man Hannovers Stadtdirektor Heinrich Tramm gar nicht erst zu kommen. Linden eingemeinden? Wo gab es denn so was! Es sei „geradezu ein Verbrechen, Hannover einen derartigen Ballast anzuhängen wie ihn Linden darstellt“, wetterte Tramm. Und so blieben Hannover und Linden lange Zeit separate Kommunen. An den Lindenern lag das nicht. Immer wieder baten sie darum, endlich eingemeindet zu werden. Erste Verhandlungen gab es schon 1827, in den Jahren 1865, 1880 und 1895 stellten die Lindener regelrechte Eingemeindungsanträge. Doch die große Nachbarstadt zeigte ihnen immer wieder die kalte Schulter. Immerhin erhielten die Lindener nach einem Vertrag von 1899 Wasser aus dem hannoverschen Wasserwerk in der Ricklinger Masch, und die Straßenbahn bezog Linden in ihre Streckenplanung ein. Der Stolz der Butjer: Linden, einst ein pittoresker Villenvorort begüterter Hannoveraner, hatte sich im 19. Jahrhundert zur Industriestadt gewandelt: Der Unternehmer Georg Egestorff gründete hier 1835 einen Vorläufer der späteren Hanomag. Zur Zeit der Industrialisierung mussten die Fabriken draußen vor der Stadt bleiben, „buten“, wie man auf Platt sagte. Die Lindener Arbeiter kultivierten schnell einen Stolz darauf, die von draußen zu sein, die „Butjer“ eben. Sie erklärten die Peripherie zum Zentrum – und schufen eine eigene Kultur mit Arbeitergesangvereinen, Arbeitersportvereinen und Arbeiterkneipen. Linden wurde 1885 schließlich Stadt, bekam ein schmuckes Rathaus – und gemeindete selbst fleißig ein: Im Jahr 1909 kamen Limmer, Davenstedt, Badenstedt und Bornum zu Linden, vier Jahre darauf auch Ricklingen. Lindens Einwohnerzahl stieg so auf bis zu 86.500 Seelen – es war die zweitgrößte Stadt in der Provinz Hannover, noch vor Osnabrück oder Hildesheim. Hannover indes wollte von einer Eingemeindung nichts wissen. Seit etwa 1890 stagnierte die industrielle Entwicklung in Linden; bald pendelten mehr Arbeiter von dort aus in Betriebe nach Hannover als umgekehrt. Linden galt als arm: Das Steueraufkommen dort war niedrig. Etwa 77 Prozent aller Wohnungen dort waren „Kleinwohnungen“, in Hannover waren es nur 32 Prozent. Heinrich Tramm rechnete gerne vor, dass auf Hannover durch eine Eingemeindung jährliche Mehrkosten von 2 Millionen Mark zukommen würden. Angst vor Übermacht der SPD: „In Linden gab es nichts“, sagt der 88-jährige Lindener Horst Deuker, der die Geschichte seines Heimatquartiers erforscht hat. Keine eigene Polizei und keine Berufsfeuerwehr, keine Garnison, keine Fernsprechzentrale, kein Theater und kein Museum. Keine Mitgift für Hannover also. Vor allem fürchteten die Bürgerlichen in Hannover (nicht ganz zu Unrecht), ihre Stadt könnte durch eine Eingemeindung des roten Linden zur Hochburg der SPD werden. Es sei zu erwarten, dass „die politischen Verhältnisse so weit nach links sich entwickeln würden, daß die Bürgerlichkeit vollkommen an die Wand gedrückt werde“, argwöhnte Bürgermeister Ludwig Weber von der liberalen DDP in einer Magistratssitzung am 23. Mai 1919. Tatsächlich hatte die SPD bei den Bürgervorsteherwahlen im Februar des Jahres in Hannover 41,4 Prozent bekommen - und in Linden 68 Prozent. Damit es zur Eingemeindung kommen konnte, mussten zunächst die Wirren am Ende des Ersten Weltkriegs Stadtdirektor Tramm aus dem Amt fegen. „Der neue, sozialdemokratische Oberbürgermeister Robert Leinert setzte sich für die Vereinigung der Städte ein“, sagt Horst Deuker. Die Verhandlungen zogen sich über Monate hin. Der Lindener Magistrat stimmte einstimmig dafür. In Hannover votierten am 31. Oktober 1919 dann 48 Bürgervorsteher dafür, darunter die Sozialdemokraten – und 36 meist Bürgerliche dagegen. Hannover wuchs mit der Eingemeindung am 1. Januar 1920 um 83.000 Einwohner und lag mit 411.500 Seelen nun auf Rang neun unter den deutschen Großstädten. Die Stadt verpflichtete sich, Lindens höhere Lehranstalten ebenso wie das Krankenhaus Siloah und den Friedhof Ricklingen weiterzubetreiben. Und die Lindener behielten ihre eigene Identität, obwohl sie selbst auf die Eingemeindung hingearbeitet hatten. „Für viele war die Welt weiterhin an der Ihmebrücke zu Ende“, sagt Deuker. „Mit dem Zusammenschluss wurde man noch lange kein ,hannöverscher Stadtjapper‘.“ Lesen Sie auch: 100 Jahre nach der Eingemeindung: Sie sind die letzten echten Lindener Quiz: Wie gut kennen Sie sich mit Linden aus? Von Simon Benne