Wie das Familienhebammen-Zentrum Hannover jungen Müttern Hilfe bietet

Antonio gluckst fröhlich. Geschickt dreht sich der sieben Monate alte Junge auf den Bauch und schaut mit wachen Augen zu den anderen Babys, die über die blauen Matten robben. Seine Mutter betrachtet ihn liebevoll, doch ihre Augen blicken traurig. Es ist nicht lange her, da wollte sie ihren Sohn abtreiben. „Es war sexueller Missbrauch“, sagt sie kaum hörbar. Sie hatte den Schein für den Schwangerschaftsabbruch bereits in der Tasche, als sie es sich doch anders überlegte. „Ich habe bei einem Ultraschall sein kleines Herz gesehen“, sagt sie und blickt zu Boden. Vorreiter Niedersachsen: Die 38-Jährige ist eine von 24 Müttern, die an der fünftägigen Freizeit des Familienhebammen-Zentrums Hannover (FHZ) in Abbensen in der Wedemark teilnehmen. Die Frauen wohnen mit ihren Kindern in den rustikalen Blockhütten der Begegnungsstätte des „Christlichen Vereins Junger Menschen“, die idyllisch in einem dichten Kiefernwald liegen. Sie backen zusammen, springen in den Außenpool, spielen mit ihren Kindern, klönen und genießen die Natur. Die Idee, Familienhebammen auszubilden, die benachteiligten Familien mit kleinen Kindern in schwierigen Lebenssituationen frühzeitig unterstützend beraten, stammt aus Hannover und hat sich inzwischen bundesweit etabliert. Im Jahr 2000 startete die Stiftung „Eine Chance für Kinder“ von Adolf Windorfer ein Pilotprojekt in Leer, Braunschweig und Osnabrück. Kurze Zeit später führte Niedersachsen als erstes Bundesland die staatliche Anerkennung der Weiterbildung zur Familienhebamme ein. Vielfältiges Programm für Mütter und Kinder: Seit 2016 können auch Kinderkrankenpfleger diese Zusatzqualifikation absolvieren. Die offizielle Berufsbezeichnung lautet seitdem „Fachkraft Frühe Hilfe.“ Windorfer setzte sich für eine Ausweitung des Hilfsangebots ein. „Es werden bundesweit 6 bis 7 Prozent der Familien betreut“, sagt er. „Aber unseren Schätzungen nach benötigen etwa 15 Prozent der Eltern dringend Unterstützung, weil sonst Kindswohlgefährdung droht.“ Bei der Freizeit in Abbensen ist das Präventionsprogramm vielfältig. Die Frauen lernen in Workshops alles rund um die Beziehung zwischen ihnen und ihrem Kind, über das Setzen von Grenzen in der Erziehung und das Achten eigener Bedürfnisse. Und auch der Spaß kommt nicht zu kurz, dafür sorgt unter anderem der Besuch der Schafe Henry und Hilde, von Hasen und Meerschweinchen. Antonios Mutter legt ihren Sohn vorsichtig auf das weiche Fell von Hilde. Er strahlt – und sie ebenfalls. Große Nachfrage nach Familienhebammen: „Dieser Platz für die Kinder zum Toben, die frische Luft, der gemeinsame Austausch. Das hat gerade in den letzten Wochen so sehr gefehlt“, klagt eine Mutter, die mit ihrem dreijährigen Sohn und ihrer einjährigen Tochter an der Freizeit teilnimmt. Zwei Monate sei sie wegen Corona mit den Kindern in ihrer kleinen Wohnung allein gewesen. Ein Zimmer habe sie untervermieten müssen, weil sonst das Geld nicht reiche. „Das Familienhebammen-Zentrum ist für mich überlebenswichtig, es ist mein zweites Zuhause.“ Die psychosoziale Hilfe des Zentrums ist niedrigschwellig und kostenlos. Das Angebot umfasst neben der alljährlichen Familienfreizeit Eltern-Kind-Gruppen, Geburtsvorbereitungskurse, Rückbildungsgymnastik, Babyschwimmen, offene Elterntreffen, Ernährungs- und Erziehungskurse. Die Mütter geben sich dabei auch gegenseitig Tipps, nicht nur rund um ihre Kinder, sondern auch in Finanzfragen und im Umgang mit Behörden. Die Nachfrage sei groß und steige, sagt Familienhebamme Brigitte Bolte. „Bei uns ist jeder willkommen. Niemand muss seinen Namen sagen, wir fragen auch nicht, ob jemand versichert ist.“ Betreuung bis zu eineinhalb Jahre: Bolte leitet gemeinsam mit der Sozialpädagogin Christine Antoni-Mensch das 2013 von der Stiftung „Eine Chance für Kinder“ und der Stadt Hannover gegründete FHZ. Das 15-köpfige Team aus Familienhebammen, Kinderkrankenschwestern, Psychologen und Sozialpädagogen koordiniert niedersachsenweit die Familienhebammen. Sie betreuen die Mütter und ihre Kinder bis zu einem Alter von anderthalb Jahren auf Wunsch auch zu Hause. Darüber hinaus arbeitet das FHZ-Team daran, ein möglichst dichtes Netz zu weben, in das von den Jugendämtern über Therapeuten bis zu Kinderärzten alle für die Mütter wichtigen Ansprechpartner eingebunden sind. Die niedersachsenweit größte Einrichtung dieser Art, ist seit 2020 in der Trägerschaft des Sozialkonzerns Diakovere. Gefördert werden die Zentren von der Bundesstiftung „Frühe Hilfen“ des Bundesfamilienministeriums. Lesen Sie auch: Hannover: Wie sehr leiden Kleinkinder unter Kita-Schließungen, Frau Lamm? Familie lehnte sie wegen Schwangerschaft ab: Einsamkeit, Depression, Gewalt, Missbrauch, Alkohol, Drogen, Armut, ungeklärter Asylstatus: Die Liste der Sorgen, von denen die Frauen bei der Familienfreizeit ein wenig Abstand gewinnen wollen, ist lang. Eine junge Roma, die aus Montenegro geflüchtet ist, berichtet, dass sich alle Familienmitglieder von ihr abwandten, als sie unverheiratet schwanger wurde. „Ich war gestresst und deprimiert. Ich hatte so große Angst, dass ich meinen Sohn sogar zur Adoption freigeben wollte“, sagt die 27-Jährige. In Abbensen wiegt sie ihren Sohn im Arm und lächelt: „Ich bin froh, dass ich hier unterstützt werde.“ Von Julia Pennigsdorf