Calmeyer-Museum in Osnabrück: Bekommt der Retter Tausender Juden einen Gedenkort?

Ein Onkel von Fritz Brickwedde war mit einer Jüdin verheiratet. Die Nazis haben sie abgeholt. Dann lag ein Brief im Briefkasten: Gegen eine Gebühr könne der Onkel sich die Asche seiner Frau aushändigen lassen. Er nahm sich das Leben. Fritz Brickwedde ist Jahrgang 1948, er hat den Onkel nicht mehr kennengelernt. Aber den Brief hat er gelesen. „Wenn aus Akten Schicksale werden“, sagt er, „dann versteht man, was passiert ist.“ Und das möchte er auch in seiner Heimatstadt Osnabrück: dass man versteht, was passiert ist. Auch, damit die jungen Leute, die den neuen Rechten hinterherlaufen, begreifen, was sie da tun. Brickwedde war lange Jahre Generalsekretär der Bundesumweltstiftung und ist heute Chef der Osnabrücker CDU-Ratsfraktion. Er sitzt, während er von seinem Onkel erzählt, in der Kleinen Ratskammer im Rathaus, umgeben von gewichtiger Holzvertäfelung und Fürstenporträts: Hier und in der Nachbarstadt Münster ist 1648 der Westfälische Friede ausgehandelt worden. Osnabrück ist eine geschichtsbewusste Stadt. Sie ehrt ihre großen Söhne Erich Maria Remarque, den weltberühmten Antikriegsschriftsteller („Im Westen nichts Neues“), und Felix Nussbaum, den in Auschwitz ermordeten jüdischen Maler. In Israel wurde Calmeyer bereits geehrt: Für Nussbaum gibt es ein von Daniel Libeskind gebautes Museum, für Remarque ein „Friedenszentrum“ schräg gegenüber vom Rathaus. Dort sind aus Akten Schicksale geworden. Nur beim Gedenken an den dritten großen Sohn der Stadt hakt es seit Jahren, was Fritz Brickwedde „schmerzlich“ nennt. Es geht um den Rechtsanwalt Hans Georg Calmeyer, 1903 in Osnabrück geboren und dort 1972 gestorben. Er hat mehr Juden vor den Nazis gerettet als irgendein anderer Deutscher. Calmeyer hatte, obwohl er kein NSDAP-Mitglied war, in den von den Deutschen besetzten Niederlanden in Zweifelsfällen darüber zu entscheiden, ob jemand Jude war oder nicht, sprich: ob er ins KZ und damit in den Tod geschickt wurde oder nicht. In zwei Dritteln aller Fälle entschied Calmeyer gegen das KZ – und sabotierte damit das System von innen. Nach dem Krieg sprach Calmeyer nicht über das, was er getan hatte. Es war im Nachkriegsdeutschland imageschädigend, im Widerstand gegen die Nazis gewesen zu sein. Der Osnabrücker Lehrer Peter Niebaum entdeckte Calmeyers Geschichte 1988, die israelische Gedenkstätte Yad Vashem erklärte Calmeyer 1992 zum „Gerechten unter den Völkern“. Niebaum starb 2013, nicht ohne eine Calmeyer-Biografie geschrieben und die Hans-Calmeyer-Initiative gegründet zu haben, die seitdem in Osnabrück für die Würdigung des Anwalts kämpft. Das Ziel: ein eigenes Calmeyer-Haus. Hinhaltetaktik der Stadt: Fünf Minuten zu Fuß vom Rathaus entfernt stehen Ralf Steiner, der heutige Vorsitzende der Initiative, und sein Vize Joachim Castan am Innenstadtring vor der Villa Schlikker, 1900 gebaut und Anfang der Dreißigerjahre von den Nazis als Parteizentrale annektiert – die Osnabrücker nannten sie das „braune Haus“. Das Gebäude, direkt gegenüber von Nussbaum-Haus und stadthistorischem Museum, steht leer. Die Villa, sagen Steiner und Castan, sei am allerbesten geeignet für eine dauerhafte Calmeyer-Ausstellung, gerade wegen der Nazi-Bezüge. Aber sie bekämen mit ihren Vorschlägen bei der Stadt „kein Bein an den Boden“. Alle Gespräche verliefen „wohlwollend, aber belanglos“. Das ärgert auch Fritz Brickwedde. Der Rat hatte auf Antrag der CDU schon 2014 einstimmig beschlossen, dass die Stadtverwaltung die Einrichtung eines eigenen Museums prüfen soll. Aber niemand reagierte in den Ämtern. 2015 wurde nachgefragt, 2016 noch mal. Passiert ist bis heute: nichts. Die Hinhaltepolitik der Stadt weckt fatale Erinnerungen an die ersten Bemühungen, Nussbaum und Remarque zu ehren, was bei den konservativen Honoratioren in Osnabrück bis in die Achtzigerjahre hinein auf Widerstand stieß. Man wollte nicht erinnert werden. Remarque wurde von einfältigen Ratsherren öffentlich zum drittklassigen Autor herabgewürdigt. Kommt eine kleine Lösung? Doch das kann heute nicht mehr der Grund sein. Tatsächlich hat bisher wohl eine Mischung aus personellen und politischen Problemen und einer Portion Desinteresse verhindert, dass die Museumsfrage in Gang gekommen ist. Die Museumsverantwortlichen der Stadt haben gewechselt, die frühere Kulturdezernentin Rita Maria Rzyski ging als Bildungsdezernentin nach Hannover, ihre Stelle war lange unbesetzt, im Stadtrat gibt es keine klaren Mehrheiten. Niemand im Apparat wollte das Thema anfassen. Inzwischen heißt der Hauptverantwortliche Wolfgang Beckermann, er ist seit Januar Kulturdezernent in Osnabrück. Sein Team hat jetzt ein Konzept ausgearbeitet, nach dem die Villa Schlikker Calmeyer-Haus heißen, aber keins sein soll: Das Material zu Calmeyers Wirken fände sich nebenan als Abteilung im Stadtmuseum, die Villa selbst wäre vor allem Begegnungsstätte. Der große Aufschlag ist das nicht, damit kann man aus Zahlen keine Geschichten machen, die Akten würden Akten bleiben. Steiner und Castan von der Calmeyer-Initiative sind denn auch unzufrieden. Und Fritz Brickwedde von der CDU fürchtet, dass so ein Umgang der deutschlandweiten Bedeutung Calmeyers nicht gerecht würde: „Bei so was muss man doch ein Ausrufezeichen setzen!“ Vielleicht kommt das ja noch. Am 5. Dezember steht die Einrichtung eines Museums auf der Tagesordnung des Osnabrücker Rates. Von Bert Strebe