Größere Schulklassen? Wie Niedersachsens Kultusminister Tonne ins Abseits gerät

Pläne von Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) für größere Schulklassen in Niedersachsen haben genau einen Tag gehalten: Am Mittwoch hatte ein Erlass des Kultusministeriums die Schulleitungen in Niedersachsen in Aufregung versetzt, am Donnerstagmorgen machten die Grünen das öffentlich und lösten einen Proteststurm aus. Am Nachmittag ruderte der Kultusminister zurück: Bei der Neubildung von Klassen soll sich im kommenden Schuljahr doch nichts verändern. Der Druck von Opposition, Lehrerverbänden und auch vom eigenen Koalitionspartner CDU war offenbar zu groß. Neubewertung nach Kritik: Die Rückmeldungen aus den Schulen hätten zur einer Neubewertung geführt, sagte Tonne. „Der Wunsch nach Verlässlichkeit in den Klassengemeinschaften ist verständlich.“ Das Ministerium werde an der bewährten Klassenbildung „nicht rütteln“. Nach dem von der Landesschulbehörde am Mittwoch verschickten Erlass hätten die Schulen in diesem Sommer größere Klassen bilden müssen, wenn die Zahl der Schüler in einem Jahrgang unter einen Grenzwert gefallen wäre. Für das Schuljahr 2020/2021 sei in allen Schuljahrgängen „die geltende Schülerhöchstzahl neu zu bilden“, hieß es in der Anordnung. „Der Bestandsschutz von eingerichteten Klassen aus dem vorhergehenden Schuljahrgang entfällt somit in diesem Schuljahr.“ Außerdem hätten den Schulen nach dem Erlass Stundenkürzungen gedroht. Belastung für Lehrer und Schüler: „Wer den Schulen, die eigentlich mehr Personal bräuchten, jetzt auch noch Personal wegnimmt, dem sind insbesondere die Kinder, die in der Corona-Krise besonders gefördert werden müssen, in Wahrheit herzlich egal“, sagte Grünen-Fraktionschefin Julia Willie Hamburg am Donnerstag. „Für die Kinder bedeutet dies nach all dem Ungewohnten auch noch eine Rückkehr in einen neuen Klassenverband mit neuen Bezugspersonen.“ FDP-Fraktionsvize Björn Försterling warf Tonne vor, er wolle die Unterrichtsversorgung schönrechnen. Der Erlass des Ministeriums führe zu größeren Klassen, mehr Belastungen für die Lehrer und könne Freundschaften zerreißen. „Es ist pädagogisch sinnvoll, Klassen nicht jährlich neu zu bilden, was für den Minister aber wohl nicht ausschlaggebend ist“, sagte Försterling. Drei Klassen für 89 Kinder: Die Gewerkschaft GEW nannte die Pläne von Tonne „höchst unvernünftig“ – gerade in Corona-Zeiten. „Das hätte fatale Auswirkungen auf die Schüler“, sagte GEW-Landeschefin Laura Pooth der HAZ. Würden in einem Jahrgang beispielsweise bisher 92 Kinder in vier Klassen unterrichtet und zum neuen Schuljahr drei Schüler gehen, etwa durch Sitzenbleiben oder Umzug, würden nur noch drei Klassen gebildet. Der Vorsitzende des Philologenverbandes, Horst Audritz, warf Tonne „Taschenspielertricks“ vor. Damit werde der Eindruck erweckt, es gebe genügend Lehrkräfte, weil sich die statistische Unterrichtsversorgung durch die Neuberechnung verbessern werde. „Die Corona-Krise lässt sich nur durch mehr Personal und mehr finanzielle Ressourcen bewältigen“, erklärte Audritz. Der Lehrerverband VNL/VDR warnte den Kultusminister davor, auf dem Rücken der Schüler die Kosten zu senken. CDU zieht zurück: Auch der Koalitionspartner hatte bereits Kritik an Tonne angekündigt. „Das geht gar nicht“, hieß es aus der CDU. Nach dem Rückzieher des Ministers verzichteten die Christdemokraten allerdings auf eine offizielle Erklärung. Dafür legten die Grünen noch einmal nach. „Das Chaos im Ministerium muss endlich ein Ende haben“, forderte Fraktionschefin Hamburg. Lesen Sie auch Abgesagte Klassenfahrten: Auch freie Schulen wollen Stornogebühren zurück Schule und Corona: Eine Lehrerin aus Hannover spricht über Distanz und Nähe im Unterricht Schule und Corona: Kultusminister Grant Hendrik Tonne im Interview Gymnasium zweiter Klasse in Hannover? Kultusminister Tonne über den Schulstreit Von Marco Seng