Interview mit Jugendforscherin: „Der Corona-Shutdown hat viele Jugendliche abgehängt“

Frau Rusack, Sie haben sich in einer breit angelegten Studie mit der Lage von Jugendlichen und jungen Menschen in der Corona-Krise beschäftigt. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? Wir haben uns mit den Erfahrungen von Jugendlichen und jungen Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren beschäftigt, weil wir das Gefühl hatten, dass sich sehr viele staatliche Maßnahmen um das Lebensfeld junger Menschen drehten, die aber in keiner Weise einbezogen worden sind. Und diese Grundannahme wurde durch unsere Studie voll bestätigt. 8000 Menschen haben sich an der Studie beteiligt, mit 5500, die den Fragebogen komplett ausgefüllt haben, haben wir die Berechnungen durchgeführt. Das Ergebnis der Befragung war ernüchternd: Die jungen Menschen haben sich weder gesehen gefühlt noch gehört. Sie wurden komplett ignoriert gerade in Zeiten, wo plötzlich alles hinfällig war: Sie konnten nicht mehr zur Schule gehen, zur Universität. Sie konnten keinen Sport mehr treiben. Dr. Tanja Rusack ist Jugendforscherin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim. Sie ist 1984 in Braunschweig geboren und hat an der Universität Bielefeld studiert. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe sowie Schutzkonzepte, sexualisierte Gewalt und Jugendsexualität. „Viele hatten keine Unterstützung von ihren Eltern“: Haben Sie den Eindruck, dass ein Shutdown wie der im Frühjahr schwere Schäden für die Entwicklung der jungen Menschen haben könnte? Von Schäden würde ich nicht reden, das ginge mir jetzt zu weit. Aber festzustellen ist, dass sich die jungen Menschen stark überfordert sahen – und zwar auf allen Ebenen. Viele von ihnen waren etwa technisch gar nicht auf das Homeschooling vorbereitet. Es fehlten Voraussetzungen wie Laptop oder ein Headset. Viele hatten keine Unterstützung von ihren Eltern. Viele fühlten sich schlicht abgehängt. Lässt sich das beziffern, wie vielen jungen Menschen ein Laptop oder Ähnliches fehlte? Wir haben gefragt, wie viele mit Geräten ausgestattet sind. Und da haben 90 Prozent geantwortet, dass sie Geräte haben, aber das bezog sich meist auf das Smartphone. „Viele Mütter haben sich geradezu zerrissen gefühlt“: Man konnte lesen, dass Eltern, die ihre Kinder während der Corona-Zeit betreut haben, oft Schuldgefühle bekamen, weil sie glaubten, ihre Kinder nicht hinreichend unterstützen zu können. Haben Sie da auch Erkenntnisse? Wir haben noch eine zweite Studie gemacht, die sich auf unter 15-jährige Kinder bezog, die noch im Haushalt ihrer Eltern leben. An dieser Studie haben 27 000 Personen mitgewirkt. Da haben wir auch die Eltern befragt. Hier wurde eine Dreiteilung deutlich – in die, denen es in der Krise ganz gut ging, in die, die sich überfordert fühlten, und diejenigen, die tatsächlich Schuldgefühle entwickelten, weil sie das Gefühl hatten, sie können der gesamten Problematik nicht gerecht werden – den Haushalt zu führen, die Berufsarbeit zu verrichten und dann kam noch das Homeschooling dazu. Das hat dazu geführt, dass viele Mütter sich geradezu zerrissen fühlten. Lassen sich für weitere staatliche Handlungen Empfehlungen aus der Studie ziehen? Ja. Kinder und Jugendliche müssen an Entscheidungen, die tief in ihr Leben greifen, beteiligt werden und angehört. Das sagt schon die UN-Kinderrechtskonvention, dass Beteiligung und Mitwirkung ein Kinder- und Jugendrecht darstellt, dass nicht einfach in so einer Corona-Krise gekippt werden darf. Es hat auch in der Berichterstattung der Medien anfangs sehr schematische und einseitige Berichte gegeben – etwa über Jugendliche, die Corona-Parties gefeiert haben. Aber nach unserer Studie haben sich die meisten Jugendlichen an die Regeln gehalten und starke Einschnitte zu verkraften gehabt. „Zweidrittel gaben an, dass sie sich nicht gehört fühlten“: Wie könnte diese Beteiligung aussehen? Es gibt sehr viele Gremien, die Expertise einholen. Das fand allerdings in der Corona-Krise nicht statt. Das sollte sich ändern. Auch war die Information der jeweiligen Bildungsträger an Schülerinnen und Schüler oder Studierende sehr mäßig, wie unsere Umfrage ergab. Zweidrittel gaben an, dass sie sich nicht gehört fühlten. Viele drückten auch aus, dass sie sich finanzielle Sorgen machen wegen der Krise. „Das wird sich langfristig auswirken“: Man spricht manchmal etwas vereinfachend von der Generation Golf. Kann man jetzt von der Generation Corona sprechen? Das erscheint mir noch zu früh. Aber klar ist, dass die Krise Auswirkungen hat – von abgebrochenen Studienaufenthalten im Ausland zu unterbrochenen Berufswegen, abgesagten Bildungsmessen. Das wird sich langfristig auswirken. Da bin ich mir sicher. Von Michael B. Berger