Niedersachsens Justizministerin Havliza zu Corona: "Keine Zeit für Debatten"

Frau Ministerin, wir müssen seit gut einem dreiviertel Jahr mit empfindlichen Corona-Beschränkungen leben. Ist in dieser hohen Zeit der Pandemie und der Notverordnung nicht die Demokratie gefährdet? Könnte es dazu kommen, dass sich die Bürger an den autoritären Verordnungsstaat gewöhnen? Diese Gefahr sehe ich so nicht. Die Verordnungen werden intensiv und laut debattiert und es gibt breite Diskussionen darüber, ob man nicht besser Gesetze in den Parlamenten verabschieden sollte, anstatt mit Verordnungen zu regieren. Aber wir befinden uns in einer vorübergehenden Notsituation, in der man möglichst schnell handeln muss und wenig Zeit für ausufernde Debatten hat. Der Staat erfüllt durch sein zügiges Handeln auch seine Schutzpflicht für die Bürgerinnen und Bürger. Und nach meinem Eindruck wird dies von der Bevölkerung akzeptiert. Andererseits gehen die Bürger oft vor die Gerichte und klagen gegen bestimmte Verordnungen... Das ist auch richtig und gut so. Wenn ein Bürger meint, eine bestimmte Vorschrift schieße über das Ziel hinaus und schränke seine Freiheit unverhältnismäßig ein und die Gerichte kippen die Verordnung dann, so ist das ein gutes Zeichen für eine funktionierende Demokratie und angewandte Gewaltenteilung. 667 Corona-Verfahren bereits abgeschlossen: Sind die Gerichte mit den vielen Verfahren gefordert oder zum Teil auch überfordert? Wir haben bis zum 29. Dezember insgesamt 310 Verfahren mit Corona-Bezug beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg und 540 Verfahren bei den Verwaltungsgerichten gehabt, darunter überwiegend Eilverfahren. Ich würde sagen, die Gerichte sind sehr gefordert, sie sind aber nicht überfordert. 667 Corona-Verfahren konnten bereits abgeschlossen werden. Die Gerichte arbeiten also schnell, sie wissen die Verfahren angemessen zu priorisieren. Ich blicke mit Stolz darauf, wie die Verwaltungsgerichte auch mit den inhaltlichen Herausforderungen umgehen, vor die sie mit jeder Verordnung aufs Neue gestellt werden. Barbara Havliza ist seit November 2017 Justizministerin in Niedersachsen. Zuvor war die 62-jährige Juristin Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Düsseldorf und leitete mehrere bedeutende Prozesse, etwa gegen die mutmaßlichen Al-Kaida-Terroristen der Düsseldorfer Zelle oder auch gegen den Attentäter auf Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Sie begann ihre Karriere in der niedersächsischen Justiz als Richterin und Staatsanwältin in den Landgerichtsbezirken Oldenburg und Osnabrück, wo sie auch lebt. Politisch ist Havliza, die im CDU-Landesvorstand sitzt, eine Quereinsteigerin. Gleichzeitig nutzen Bürger die vom Staat ausgeschütteten Hilfszahlungen auch für Betrügereien... Was ich als ausgesprochen schäbig und unanständig empfinde, sich diese Nothilfen, die viele wirklich brauchen, auf betrügerische Weise zu erschleichen. Sind die Zahlen der Ermittlungsverfahren wegen Betrügereien um Corona-Hilfen gestiegen? Ja, die Verfahren nehmen zu, aber nicht mehr so stark. Anfang Dezember waren wir bei 1270 Verfahren, Anfang November waren es noch 1196 Verfahren. Insgesamt geht es dabei um ausgezahlte Fördermittel von rund 9,9 Millionen Euro. Etwa 905.000 Euro konnten sichergestellt werden. Man sieht daran, dass Polizei und die Staatsanwaltschaften gute Arbeit leisten. Bei Erkrankung in der eigenen Familie ändert sich Einstellung: Die Regierung hat erst einen leichten Lockdown verordnet, der aber nicht recht wirkte, jetzt einen scharfen. Dennoch gehen die Infiziertenzahlen nicht merklich zurück. Offenbar halten sich viele Bürger nicht an die Abstands- und Hygieneregeln. Was kann der Staat tun, die Moral der Bevölkerung zu verbessern? Ich würde nicht von Moral sprechen, sondern von Motivation. Wir leben seit März 2020 mit dieser Pandemie. Die Menschen sind müde und genervt, es fällt dann schwerer, sich an die Regeln zu halten. Nach meinem Eindruck ändert sich das aber schlagartig, sobald man einen schweren Erkrankungsfall in der Familie hatte. Eine Corona-Infektion kann lebensgefährlich sein. Deshalb muss auch die Politik immer wieder dazu motivieren, sich an die Regeln zu halten. Immerhin ist in diesen Corona-Zeiten die Zahl der Einbrüche spürbar zurückgegangen... Kein Wunder, die Menschen bleiben ja auch zu Hause. Auch sogenannte Straßendelikte gehen zurück in diesem Jahr, etwa Ladendiebstähle oder Raubüberfälle. Das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass die Läden geschlossen blieben. Erstaunlich ist, dass die Befürchtungen, die häusliche Gewalt würde während eines Lockdowns ansteigen, sich anhand der ersten Zahlen noch nicht bewahrheitet haben. Die Datenlage ist aber sehr unklar. Man muss in diesem Bereich auf längere Sicht mit einem Anstieg rechnen. Wenig Probleme hatten sie in den Gefängnissen. Warum kam es da kaum zu Infektionen? Da sind wir mit 23 Infektionen bislang glimpflich davongekommen. Die Infektionen haben sich überwiegend außerhalb der Gefängnismauern ereignet und wurden bei neu aufgenommenen Gefangenen entdeckt. Einen Massenausbruch im Gefängnis hatten wir gottlob nicht. Das Konzept, das wir gemeinsam mir den JVA-Leiterinnen und Leitern entwickelt haben, hat gegriffen. Alle, die neu hereinkamen, sind getestet worden und kamen in eine vierzehntägige Quarantäne. Wir haben Isolierstationen eingerichtet und auch manche Ladungen zum Haftantritt vorübergehend zurückgestellt, damit die Gefängnisse nicht zu voll werden. Wir haben Videotelefonie eingerichtet, um Besuche zu vermeiden. Und, was ganz wichtig ist, die Häftlinge haben bei allem gut mitgemacht. Keine Scheu vor digitalen Medien: Corona hat auch in der Justiz zu einem deutlichen Digitalisierungsschub geführt. Wird der auch nach dem Ende der Epidemie anhalten? Ja, das ist sicher. Wenn man der Corona-Zeit etwas Positives abgewinnen möchte, dann, dass die Zurückhaltung im Umgang mit digitalen Medien deutlich abgenommen hat. Wir setzen aus dem zweiten Nachtragshaushalt acht Millionen Euro für die weitere Digitalisierung der Justiz ein und sind dabei, alle Gerichte mit digitalen Sälen auszustatten. Digitale Verhandlungen werden zunehmen. Lesen Sie auch: Niedersachsen will den digitalen Strafantrag einführen Was sind für Sie die Lehren aus der Corona-Zeit? Mich hat positiv beeindruckt, dass die Solidarität unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Justiz extrem groß war. Alle haben sich gemeinsam angestrengt und gefragt, wie können wir das zusammen bewältigen? Wir hatten zum Beispiel niedrigere Krankenstände im Justizvollzug, zwischen Januar und November waren es 20,39 Tage pro Bediensteter. Im Jahr zuvor waren es knapp 21 Tage. Auch die Gerichte und Staatsanwaltschaften haben beeindruckende Konzepte entwickelt, wie sie die Kontaktbeschränkungen einhalten können. Da sind nicht wenige mit Frühschichten ab fünf Uhr gestartet. Was erhoffen Sie sich persönlich für das nächste Jahr? Dass wir diese Zeit allmählich überwinden und dass man sich wieder halbwegs normal begegnen kann. Dass man sich auch einmal ganz unbefangen in den Arm nehmen kann. Von Michael B. Berger