Radikaldiät: Wie Guido Sander vom 193-Kilo-Mann zum Marathonläufer wurde

Der schwarze VW Touareg vor Guido Sanders altem Bauernhaus steht nur noch als Symbol für seine Vergangenheit. Vergangenheit ist bei Sander gleichbedeutend mit Erfolg: Er gründete IT-Unternehmen, baute Firmen auf. Schon mit Mitte 20 konnte er sich alles leisten, fuhr eine E-Klasse und nächtigte in Luxushotels. „Ich war der Boss meines Lebens“, sagt Sander über diese Zeit. Doch am Ende war er nicht nur erfolgreich, sondern wog auch fast 200 Kilogramm. Seine Karriere kostete ihn fast sein Leben. Sander nimmt 124 Kilogramm ab, tauscht Anzug gegen Trainingskleidung: Jetzt, gut vier Jahre später, wiegt Sander bei 1,87 Metern Größe nur noch um die 79 Kilogramm, darf sich Hobbyläufer des Jahres 2019 nennen und trainiert für den Marathon in Hannover. Sander sitzt am Küchentisch seines Elternhauses am Rande der knapp 7000 Einwohner zählenden Gemeinde Wagenfeld in Niedersachsen. Statt Anzug trägt er jetzt rot-schwarze Sportkleidung und eine Polaruhr am Arm. Sander spricht ruhig, holt weit aus, kommt immer wieder zu neuen Schlüssen. Er versucht in Worte zu fassen, wie all das passieren konnte, dieser Wandel. Eines steht für den 46-Jährigen fest: Seine Geschichte ist die „vom Tellerwäscher zum Millionär, nur umgekehrt“. Ihre Wende nimmt die Geschichte Ende 2015. Zu dieser Zeit meldet sich Sanders Körper, fast 200 Kilogramm schwer. Er versetzt ihn in Todesangst. Sander bekommt Schweißausbrüche. Seine Beine brennen. Sein Herz schlägt zu schnell. Der erste Gedanke: ein Herzinfarkt. Das Schlimmste bleibt ihm erspart. Es ist nur der letzte Warnschuss. Sanders Blutzucker liegt weit über dem Maximalwert. Seine Frau Renate will den Notarzt rufen. Sie ist selbst Krankenschwester, das verschafft Sander ein Gefühl von Sicherheit. Er bettelt, verhandelt, nicht ins Krankenhaus zu müssen. Er schämt sich. Wie zuvor so oft in seinem Leben geht er wieder nicht zum Arzt. „Ich wusste, ich gehe nicht mehr lange über Los“: Heute weiß Sander, dass er Glück hatte, dass ihm nichts passiert ist. „Ich wusste, ich gehe nicht mehr lange über Los“, sagt er. Zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2015 denkt er nicht zum ersten Mal über einen Lebenswandel nach. Seit 2003 hatte er fast alles verloren, was er verlieren konnte: Erst geht seine Firma pleite, dann verlässt ihn seine damalige Partnerin. Mit 200.000 Euro Schulden muss Sander von vorn starten. Unternehmen und Liebe kann er wieder neu aufbauen. Doch zwei Schicksalsschläge stürzen ihn in den folgenden Jahren in eine noch tiefere Krise. 2009 nimmt sich Sanders Bruder das Leben, ein Jahr später stirbt sein Vater – mit 67 Jahren. „Und der war schlank“, sagt Sander mit brüchiger Stimme. Sein Vater hatte sein ganzes Leben gearbeitet, genau wie Guido Sander selbst. Die Arbeit an erster Stelle: Mit diesem Leitsatz hat Sander inzwischen gebrochen, auch wenn er rückblickend noch immer mit Stolz über seine Leistung spricht. Sanders damalige Finanzlage verhindert jedoch zunächst seinen Ausbruch aus der Arbeitsmaschine. Er kompensiert die emotionalen Tiefschläge mit Essen. Sander rechnet haargenau vor, wie er es auf sein Höchstgewicht von 193 Kilogramm schafft – mit einem schleichenden ständigen Kalorienüberschuss. „Dann ist das ganz einfach“, meint er. Die Todesangst bringt Sander endgültig zum Umdenken: In seinem Job bewegt er sich kaum, schickt seine Mitarbeiter zum Essenholen. Sander blendet sich selbst mit Coaching, investiert viele Tausend Euro in Ausbildungen, glaubt, dass er sich selbst damit helfen kann. Psychisch hilft es ihm scheinbar, körperlich beachtet er sich weiterhin nicht. „Du wirst mental zwar stärker, aber dir geht’s immer noch scheiße“, sagt Sander heute. Erst der körperliche Zusammenbruch, die Todesangst, die er in jenem Moment Ende 2015 spürt, bringt Sander dann zum Umdenken. Von heute auf morgen startet er 2016 mit dem Zuckerentzug, setzt sich auf eine Radikaldiät, verzichtet schließlich auf fast alle Kohlenhydrate. Von einem Arzt will er sich weiter nicht reinreden lassen. Wie in seinem früheren Job analysiert er alle Nahrungsmittel, berechnet seine Ernährungspläne. Zwischen Januar und Oktober 2016 nimmt Sander 100 Kilogramm ab. „Irre bis wahnsinnig“ sei das gewesen, meint Sander heute zu dem gefährlichen Vorgehen. „Auch eine Wiederbelebung ist nicht gesund, aber sie rettet einem das Leben.“ Dass er in kürzester Zeit überhaupt so viel abnehmen konnte, lag auch an seiner komfortablen Situation als Selbstständiger –mit einem wiederaufgebauten finanziellen Polster. Denn die Diät raubt ihm sämtliche Kräfte. An Arbeit ist in dieser Zeit nicht zu denken. Aus der Radikaldiät wird ein Lebenswandel: Nach zehn radikalen Monaten will er zunächst zurück in den Job, in sein altes Leben. Aber Sander zweifelt. Ob es wieder das richtige Leben für ihn ist? Ob er so auch sein Gewicht halten kann? Sander entscheidet: Er macht aus der Diät einen Lebenswandel. Der 46-Jährige verkauft seine Firma, zieht mit seiner Frau auf den Hof seiner Eltern. Um sich zu stabilisieren, geht er schwimmen, fährt Rad und gewinnt schließlich auch das Vertrauen in seine bislang kaum genutzten Beine zurück. Wie Sander im Laufen seine neue Leidenschaft entdeckte: Sander beginnt zu laufen. Erst langsam, dann schneller. Erst kurze Strecken, dann Marathon. Aus einem Mittel zum Zweck macht er eine Leidenschaft und schließlich sein Leben. „Ab dem ersten Tag tat es richtig gut, es fühlte sich noch freier als meine Selbstständigkeit an.“ Sander organisiert einen Profitrainer, will im fortgeschrittenen Alter Berufssportler werden. Denkt an Joey Kelly als Vorbild. Ob er eine alte Sucht gegen eine neue ausgetauscht hat? „Vielleicht, aber das würde ich erst sagen, wenn es sich negativ auswirkt“, sagt er. Seine Extremdiät kommt nicht bei allen gut an: Nicht bei allen kommt dieser Wandel gut an. Sander zeigt seine Ergebnisse in sozialen Netzwerken –auf eigener Website, auf Facebook, Twitter und Instagram. Auch aus dem engsten Kreis kommt Kritik – Vorwürfe, dass sein radikaler Weg krank sei. Kommentare, die den dünnhäutigen Mann verletzen. Seine Frau managt ihn, hält ihm die Kritiker vom Leib. Doch es gibt auch positives Echo. Durch seine Rekorddiät und die Teilnahme an öffentlichen Läufen steigt die mediale Aufmerksamkeit. Sander sieht darin auch eine Bestätigung, dass Menschen seine Geschichte interessant finden. Er glaubt daran, dass sie andere bewegen könnte, umzudenken. Sander will in Hannover einen Rekord aufstellen: Das nächste Laufziel hat Sander schon vor Augen. Derzeit trainiert er für die Deutsche Meisterschaft im Marathon am 26. April in Hannover. Er will einen neuen persönlichen Rekord aufstellen – wie so oft in seinem Leben. Seine weiteren Ziele formuliert er aber eher zurückhaltend. Die Website wirkt da schon selbstbewusster, als er es ist. „Steh auf, mach es nach“, steht dort in großen weißen Lettern. Ein Blick in die Zukunft bedeutet für Sander auch, einen schmerzlichen Blick in die Vergangenheit zu werfen – auf seine alte Leidenschaft. „Im Business bin ich nicht mehr leistungsfähig“, erklärt er mit Tränen in den Augen. 30 Jahre Unternehmertum waren sein Leben. Deshalb denkt Sander auch über die Monetarisierung seiner Geschichte, seines Problems und Erfolgs nach. Aber erst mal hat er sich dazu entschieden, von seinen Ersparnissen zu leben. Auf einem Hof mit drei Eseln, zwei Katzen und einem Hund. „Ich will jetzt das machen, worauf ich Bock habe“, sagt Sander. Doch sein Startkapital wird maximal noch für ein paar Jahre reichen. Seinen Anspruch hat er, wie er es selbst nennt, „auf studentisches Niveau“ runtergeschraubt. Wenn es finanziell eng wird, will er Coach werden, oder Lauftrainer, aber kein Missionar. Das ist der Lauf seines Lebens. Lesen Sie auch: Abnehmen mit der HAZ: Leser wollen Gewicht verlieren und setzen auf ein Ärzteteam aus Hannover Alle Teilnehmerfotos vom Hannover-Marathon 2019 Von Sebastian Stein