Rückkehr der Pendler: Wie ist das Zugfahren in Zeiten von Corona?

Der Zug nach Wolfsburg ist überbesetzt. Das wissen die Fahrgäste an diesem Freitagnachmittag noch bevor der ICE an Gleis 9 ankommt. Es steht auf der Anzeigetafel am Eingang des Hauptbahnhofes in Hannover. Es steht auf der Anzeigetafel an Gleis 9. Es steht in der DB-Smartphone-App. Wir steigen trotzdem alle ein. „Die schmeißen uns schon nicht raus“: Überbesetzt heißt, dass mehr als 50 Prozent aller Sitzplätze gebucht wurden. Angesprochen auf die Anzeige der Bahn, dass der Zug überbesetzt sei, sagt eine junge Frau am Bahnsteig: „Der nächste Zug fällt aus, und die schmeißen uns schon nicht raus.“ Das stimmt. „An dem offenen System, das Bahnkunden in Deutschland sehr schätzen, halten wir fest“, erklärt eine Sprecherin der Bahn. Das bedeutet: Wer ein Ticket hat, fährt mit. Kunden, die den „Flextarif“, also eine Strecke ohne feste zeitliche Bindung, gebucht haben, können einen anderen Zug nehmen. Der Rest nicht – auch nicht in Zeiten, in denen halb Deutschland über Superspreader, Aerosole und Mund-Nasen-Schutze diskutiert. Wem es in seinem Abteil zu eng werde und wer sich Sorgen mache, der könne den Wagen wechseln – und selbstverständlich das Personal um Hilfe bitten, sagt die Sprecherin. „Dafür sind unsere Mitarbeiter ja da.“ Bahn setzt doppelt so viele „Unterwegsreiniger“ ein: Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Universität Nürnberg zufolge könnten Pendler und Pendlerinnen die Verbreitung des Coronavirus in Deutschland deutlich beschleunigt haben. Jetzt kehren viele von ihnen aus dem Homeoffice an ihren Arbeitsplatz zurück. „Die Nachfrage zieht langsam wieder an“, sagte DB-Personenverkehrsvorstand Berthold Huber Anfang der Woche. Um den steigenden Passagierzahlen gerecht zu werden, werden ab Juli doppelt so viele „Unterwegsreiniger“ im Einsatz sein, die während der Fahrt insbesondere Kontaktflächen und WCs reinigen, kündigt die Bahn an. Im Wagen 34 auf Sitzplatz 52 im ICE nach Wolfsburg fühlt sich die angekündigte Überbesetzung viel weniger bedrohlich an, als sie im Vorfeld klang. In einer Zeit vor Corona hätte dieser ICE an einem Freitag vor Pfingsten als geradezu schockierend leer gegolten. Nur vereinzelt sitzen Personen nebeneinander. Die meisten Passagiere haben allein in einem Zweier-Sitzer Platz genommen. Alle halten sich an Maskenpflicht: Alle tragen Mund-Nasen-Masken. Ein älterer Mann hat sich ein Plastikvisier vors Gesicht gespannt. Niemand redet. Der Zug verlässt Hannover um 14.37 Uhr anstatt um 14.31 Uhr. Es ist fast wie immer. Nach ein paar Minuten tönt eine Durchsage aus den Lautsprechern im Abteil: Man solle nach Möglichkeit am Fenster sitzen, bittet eine Männerstimme, damit Abstand gehalten wird zu den anderen Fahrgästen und dem Personal. Der Mann mit dem Visier setzt sich um. Er saß auf einem Platz am Gang. Im Bordbistro ein Waggon weiter wird jetzt wieder so gut wie alles angeboten, erzählt eine Verkäuferin als der ICE schon fast in Wolfsburg ist. Eine Zeit lang gab es nur abgepackte Sandwiches. Jetzt auch wieder Fussili mit Tomaten-Feta-Sauce oder Chili con Carne. Zurück geht es mit der Regionalbahn: War es im ICE von Hannover nach Wolfsburg schon ruhig, dann herrscht auf der Rückfahrt im Regionalzug Enno von Wolfsburg nach Hannover fast Einsamkeit. Auch hier gilt die Maskenpflicht, auch hier halten sich alle Passagiere daran. Es ist Viertel nach vier, in einem Vierersitz döst ein Mann. Ein paar Sitze weiter vorn strickt eine Frau mit apricotfarbenem Garn. Metronom führt unter der Marke „Enno“ unter anderem den Nahverkehr zwischen Hannover und Wolfsburg durch. Laut einer Sprecherin des Unternehmens befördern Enno-Züge normalerweise täglich bis zu 20.000 Menschen. Noch lägen die Fahrgastzahlen weit unter der üblichen Auslastung. Metronom habe sein mobiles Reinigungsteam verstärkt und sei momentan dabei, Maßnahmen zu entwickeln, damit die Passagiere den Mindestabstand einhalten können, wenn die Fahrgastzahlen weiter steigen, teilte eine Sprecherin mit. „Früh morgens ist das anders“: Ein junger Schaffner kontrolliert im Enno die Tickets der Fahrgäste, eine ältere Kollegin begleitet ihn. „Ja, Gott sei dank“, sagt sie, angesprochen auf die Leere im Zug. „Aber wenn Sie eine Bahn zum Schichtwechsel bei VW nehmen oder früh morgens fahren, ist das schon wieder anders.“ 330.000 Niedersachsen waren laut Dirk Altwig, Pressesprechers der Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG), vor der Corona-Pandemie jeden Tag im Regionalverkehr mit der Eisenbahn unterwegs. Dazu kommen noch Fahrgäste in der Region Hannover und im Regionalverband Großraum Braunschweig – die einzigen Regionen Niedersachsens, für die die LNVG nicht verantwortlich ist. Teils wieder 60 Prozent des Vor-Corona-Niveaus: Ende März brachen die Zahlen laut Altwig um bis zu 90 Prozent ein. Mittlerweile würden wieder alle üblichen Zugverbindungen gefahren. Auf wenigen Linien haben die Fahrgastzahlen schon wieder 60 Prozent des Vor-Corona-Niveaus erreicht. Am Freitagnachmittag im Enno ist das noch nicht der Fall. Am Fenster fliegen grüne Wälder vorbei, der Mann im Vierersitz nebenan ist irgendwo zwischen Wolfsburg und Hannover ausgestiegen. Noch ist Platz genug, um Abstand zu halten. Das tägliche HAZ Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Hannover täglich gegen 6 Uhr im E-Mail-Postfach. Lesen Sie auch: Coronakrise: Deutsche Bahn braucht Milliarden So wappnet sich die Bahn für steigende Fahrgastzahlen Studie: Berufspendler haben Verbreitung des Coronavirus in Deutschland verstärkt Maskenpflicht im Hauptbahnhof: Die Disziplin bei den Reisenden lässt nach Von Nadine Wolter