Hannover: Museumsdirektorin Katja Lembke schreibt über Ikonen der Kunst

Kennt man. Kennt man. Kennt man. Der Bilderreigen, der am Beginn des Buches steht, zeigt lauter alte Bekannte. Botticellis „Geburt der Venus“ ist dabei und die antike Laokoon-Gruppe, Michelangelos Schöpfungsfresko aus der Sixtinischen Kapelle, Rembrandts „Nachtwache“ und die Büste der Nofretete. Natürlich kann man sich fragen, warum gerade der Isenheimer Altar nicht dabei ist oder Dürers „Selbstbildnis im Pelzrock“. Aber unterm Strich sind die 25 Werke, die Katja Lembke da zusammengestellt hat, ein ziemlich mehrheitsfähiger Kanon der Kunstgeschichte. Lauter Werke, die im kollektiven Gedächtnis der Menschheit ihren festen Platz haben und denen der Ruf vorauseilt, eine Aura zu haben. Am Anfang ihres Buches zitiert die Autorin den amerikanischen Künstler Julian Schnabel: „Die meisten Besucher betreten ein Museum, um etwas zu sehen, von dem sie glauben, es zu kennen.“ Die gelernte Klassische Archäologin und Ägyptologin, seit zehn Jahren Direktorin des Landesmuseums Hannover, beschäftigt sich in ihrem ebenso klugen wie unterhaltsamen Werk mit „Ikonen der Kunst und wie sie zu dem wurden, was sie heute sind“. Ein Titel, der auch vom Bestsellerautor Jonas Jonasson stammen könnte. Leonardo von Faschisten instrumentalisiert: Warum werden einige Werke tausendfach auf T-Shirts und Teetassen reproduziert, während andere, kaum weniger bedeutende, auf ewig in Seitenkabinetten hängen? Schönheit kann dafür nicht das alleinige Kriterium sein, denn dann dürfte Munchs verstörender „Schrei“ kaum dazugehören. Als Sinnbild für die von Angst und Entsetzen zerrissene Seele des modernen Menschen ist dieser dennoch das Schlüsselwerk einer ganzen Epoche. Auffällig viele Kunstikonen stammen aus Zeiten des Umbruchs: „Diese ,Sattelzeiten‘ kennzeichnen eine Abkehr vom Alten und einen Aufbruch zu Neuem“, schreibt Lembke. Vielleicht liegt es auch daran, dass in ihrem Kanon die Renaissance nicht unterrepräsentiert ist. Da ist zum Beispiel Leonardos „Vitruvianischer Mensch“, der die Harmonie der Körperproportionen auslotete und den Menschen zum Maß aller Dinge erklärte. Allerdings war die Zeichnung über Jahrhunderte nur Leonardo-Nerds bekannt. Erst 1939 instrumentalisierten Italiens faschistische Machthaber den wehrlosen, weil längst toten Leonardo, um ihre Nation bei einer Ausstellung in Mailand als Bastion des Fortschritts zu feiern – mit dem „Vitruvianischen Menschen“ als Markenzeichen. Ohne diese Propaganda würde er heute womöglich nicht Ein-Euro-Münzen und Krankenkassenkarten zieren. Menschengemachte Mythen: „Eine Ikone kann man nicht erschaffen, sie entsteht durch Zuweisung“, schreibt Lembke. Moden und gesellschaftliche Konventionen entscheiden letztlich darüber, was berühmt dafür ist, berühmt zu sein. Kunstikonen sind menschengemachte Mythen. Werke, die einen Nerv treffen und dann durch geschickte Inszenierung oder mediale Verstärkung groß rauskommen. Raffaels „Sixtinische Madonna“ etwa, gemalt um 1512, war in Dresdens Gemäldegalerie lange ein Bild unter vielen – bis Romantiker wie Novalis und Tieck, aber auch Goethe und Kleist anfingen, sie anzubeten. Bald zierten Druckgrafiken des Gemäldes jeden besseren bürgerlichen Haushalt. Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ wurde noch 1881 für einen lächerlichen Preis von 2 Gulden und 30 Cent verhökert. Zur „holländischen Mona Lisa“ wurde das Gemälde erst mit einer großen Ausstellung in Den Haag 1995 – ein vergleichsweise junger Stern am Firmament der Kunstikonen. Gestohlene Mona Lisa: Selbst die „Mona Lisa“ avancierte so recht erst im 19. Jahrhundert zur Mutter aller Bilder. Als sie dann ein italienischer Hilfsarbeiter 1911 stahl, um sie nach Italien zurückzubringen, entfachte dies einen regelrechten Hype um das Bild. Seine Rückkehr nach Paris wurde mit einer Staatszeremonie gefeiert. Es ist gar nicht so selten, dass Werke ihren Ruhm ausgerechnet ihrem Verschwinden verdanken. Die afghanischen Buddha-Statuen von Bamiyan rückten paradoxerweise erst ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, als fanatische Taliban sie 2001 sprengten. Seither verkörpern sie als Leerstellen die Bedrohung von Pluralität und religiöser Toleranz. Katja Lembke nimmt ihre Leserschaft mit zu den archäologischen Ausgrabungen, bei denen 1912 die Nofretete-Büste ans Licht kam, und in die Zelle von van Goghs Nervenheilanstalt. Das Buch bietet Analysen des Kunstmarktes und Streifzüge durch die Kulturgeschichte – eine ebenso gelehrte wie kurzweilige Mischung. Allerdings fällt in der Zusammenschau auf, dass die meisten globalen Ikonen aus der westlichen Welt stammen – sieht man von Ausnahmen wie Hokusais „Großer Welle vor Kanagawa“ oder Tutanchamuns Goldmaske einmal ab. Werken außereuropäischer Kulturen sei es bislang nicht gelungen, zeit- und kulturübergreifend Akzeptanz zu finden, erklärt Lembke. Man darf gespannt sein, welche Werke aus unserer Zeit einmal zu Ikonen erhoben werden. Katja Lembke: „Ikonen der Kunst und wie sie zu dem wurden, was sie heute sind“. Prestel. 239 Seiten, 22 Euro. Von Simon Benne