Björn Nolting Lumix-Festival: Wie die Menschen im Iduna-Zentrum Göttingen leben

Das Iduna-Zentrum in Göttingen ist wegen eines Corona-Ausbruchs im Mai in die Schlagzeilen geraten. Schon vorher war das 18-geschossige Hochhaus in der Innenstadt vom Vorzeigeprojekt der Siebzigerjahre zum sozialen Brennpunkt geworden. Der Fotograf Ingmar Björn Nolting hat vor den jetzigen Ereignissen das Leben in dem Komplex für ein Langzeitprojekt mit der Kamera begleitet und auch in dem Gebäude gewohnt. Nun nimmt er mit dem Beitrag „Hinter Fassaden“ am Lumix-Festival Hannover teil. Herr Nolting, wie kamen Sie zu „Hinter den Fassaden“? Ich wollte ursprünglich eine Arbeit über Wohnungsknappheit machen und wie sie sich auf Menschen auswirkt. Ich wollte in das Leben von Menschen hineinschauen, die oft Gegenstand medialer Debatten sind wie Arbeitslosigkeit, Suchtkrankheit, Migration. Es wird immer allgemein behandelt. Ich wollte wissen, wie es den Individuen mit der Situation geht. Und warum ausgerechnet Göttingen? Mein Bruder studierte in Göttingen, ich habe von den Gebäuden wie dem Iduna-Zentrum gehört und habe angefangen zu recherchieren. Es gibt so ein Projekt in jeder größeren Stadt. Anfang der Siebzigerjahre gebaut, relativ günstig, gedacht für junge Familien. Es sollte das Wohnen der Zukunft sein. Dann kam die Abwärtsspirale. Ich wollte eigentlich einen Bewohner porträtieren. Er gehörte zu einem Kreis von Suchtkranken. So kam ich rein. „Wenn ich es verstehen will, muss ich da wohnen“: Ingmar Björn Nolting, 1995 in Aalen geboren, hat in Dortmund Fotografie studiert und lebt in Leipzig. Sein Langzeitprojekt „Hinter den Fassaden“ ist 2018 mit dem Emerge Visual Journalism Grant ausgezeichnet worden. Derzeit arbeitet Nolting an einem Projekt über die Auswirkungen der Corona-Krise. Sie sind dann ins Iduna-Zentrum gezogen. Warum? Ich habe immer mehr Leute kennengelernt. Der Rechercheprozess ist lang, es geht vor allem um Vertrauen. Anfangs bin ich immer hingefahren. Aber dann wurde mir klar: Wenn ich es verstehen will, muss ich da wohnen. Es sind fünf Monate geworden. Waren die Bewohner skeptisch? Nein. Ich habe von vornherein klar kommuniziert, dass ich für das Projekt dort bin. Das hat auch was mit Ehrlichkeit zu tun. Es hat sich dann auch eine typische Nachbarschaft entwickelt. Der eine fragt, ob er die Wäsche bei dir aufhängen kann, weil seine Wohnung zu klein ist. Oder man wird zum Kaffee drei Stockwerke drüber eingeladen. Haben Sie das Iduna-Zentrum und ihre Arbeit dort als gefährlich empfunden? Insgesamt nicht. Man gewöhnt sich an den Stahlbeton und auch an die Lautstärke. Es gab für mich ein paar unangenehme Situationen, auch beim Fotografieren. Aber ich habe es ja drauf angelegt, dort hineinzublicken. „Es ist sehr heterogen“: Wie würden Sie die Bewohnerschaft beschreiben? Man kann das nicht pauschal sagen. Zwei Gebäude, 18 Stockwerke – es ist nicht mal ganz klar, wie viele Leute da wohnen. Ein großer Prozentsatz der Wohnungen fällt auf Großfamilien ab, die während des Bürgerkriegs in Jugoslawien nach Deutschland gekommen sind. Dann gibt es die Gruppe der Suchtkranken, es gibt Arbeitslose, Geflüchtete, Rentner, die sich nichts anderes leisten können. Und Studierende, die erstmal da wohnen und dann bald wieder ausziehen, wenn sie was besseres gefunden haben. Es ist sehr heterogen, die Fluktuation ist sehr hoch, der Wohnungsmarkt in Göttingen ist schwierig. Manche bleiben auch dort. Es ist ja sehr nah an der Innenstadt. Die Suchtkranken, deren Alltag in Ihren Bildern Raum einnimmt – Sie sprechen von einer Gruppe. Warum? Es ist keine feste Gruppe, sondern eher am Nutzen orientiert, aber es gibt auch Freundschaften. Man kennt sich eben in der Szene. Bei Studierenden habe ich das anders erlebt, die betrachten sich eher mit Skepsis. „Es ist ihre Lebensrealität“: Wie fanden die Bewohner Ihre Bilder? Gut! Sie empfanden das als Wertschätzung. Und es ist ihre Lebensrealität. Auch bei den Suchtkranken. Ich habe versucht, sie respektvoll zu behandeln. Auf Außenstehende können dieses Leben und diese Bilder befremdlich wirken. Aber sie sagen: Guck mal, mein Po sieht da ziemlich gut aus. Wie groß ist die Stigmatisierung des Zentrums in Göttingen? Es ist natürlich ein sozialer Brennpunkt und dementsprechend stigmatisiert. Manche Leute laufen schneller, wenn sie am Iduna-Zentrum vorbeigehen. Ich habe Vermieter erlebt, als ich für Bewohner als Übersetzer ausgeholfen habe, denen war es schon unangenehm, in der Nähe des Zentrums im Auto gesehen zu werden. Aber ich habe auch mit Menschen gesprochen, die gute Erinnerungen hatten. Das Zentrum hat immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Nun wegen eines Corona-Ausbruchs. Fühlen sich Kritiker des Gebäudes bestätigt? Es wird benutzt, um die eigene These zu untermauern. Es ist aber vorbeigedacht am Problem. Ein Kampf der Narrative: Warum? Kein Hochhaus in dieser Bauform ist gefeit vor einem Corona-Ausbruch. Es ist eng, viele Leute auf wenig Raum, kaum Fahrstühle, man besucht sich im Haus. Wenn dort zwei, drei Leute Covid-positiv ist, breitet sich das schnell aus. Es gab woanders auch Ausbrüche bei Gottesdiensten und privaten Feiern, aber das wurde nicht so ausgeschlachtet wie der Covid-Spread im Iduna-Zentrum. Berichterstattung und Politiker suchten einen Schuldigen. Es war ein Kampf der Narrative. Der Blick fiel schnell auf muslimische Großfamilien und Zuckerfest-Feiern. Die aber behaupteten, der „Patient Null“ gehöre nicht zu ihnen und habe gegen Quarantäne-Auflagen verstoßen. Was die Politik im Nachhinein bestätigt hat. Es ist eine absurde Diskussion, die an den eigentlichen Problemstellungen vorbeigeht. Sie haben noch Kontakt zu den Bewohnern. Kocht dort die Wut hoch? Natürlich. Nicht so schlimm wie später in der Groner Landstraße. Aber auch das Iduna-Zentrum wurde belagert, es wurden große Geschichten gemacht, und die Leute haben Reporterteams mit Kartoffeln beworfen. Viele Bewohner wollen, dass das alles endlich vorbei ist. Bei den Tests haben alle mitgemacht, sie hatten ein Interesse daran, es abzuschließen und aus dem medialen Feuer herauszukommen. Setzen Sie das Projekt fort? Nein, es ist abgeschlossen. Das Lumix-Festival ist 2020 coronabedingt ins Netz gewandert und bietet neben allen 50 Fotostrecken und 20 Digital-Storys zehn Thementage mit Live-Gesprächen und vielen Infos auf lumix-festival.de. Am Donnerstag geht es um Berufsperpektiven für junge Fotografen, am Freitag um das Fotobuch als Publikationsmöglichkeit. Am Sonnabend um 16 Uhr diskutieren Experten über die Gleichberechtigung vieler Geschlechter in der heutigen Gesellschaft, umrahmt von Videointerviews, Podcasts und natürlich Fotostrecken zum Thema. Lesen Sie auch: So startet das Lumix-Festival 2020 im Netz Von Uwe Janssen