Die Kassette hat in einer Nische überlebt. Selbst Lady Gaga gibt es auf Tape

Kassetten zählen zur alten Welt. Sie wurden erfunden, als noch Säbelzahntiger über die Erde liefen, jedenfalls ungefähr. Tipp-Ex, Rohrpost, Musikkassetten – das ist der Dreiklang versunkener Technologien. Und wer von Bandsalat nicht reden will, der sollte auch von der Kassette schweigen. Aber was soll man sagen: Es gibt sie immer noch. In einer Nische zwar, aber immerhin. Selbst Lady Gaga ist mittlerweile auf Chromdioxid vertreten. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr etwa 100.000 Stück verkauft, sagt Sigrid Herrenbrück, Sprecherin des Bundesverbands Musikindustrie. Das waren etwa zwei Drittel weniger als im Vorjahr. Hatte der Umsatz 2011 noch bei fünf Millionen Euro gelegen, bewegte er sich in den letzten Jahren zuverlässig bei rund einer Million. 2020 aber war es nur noch etwa die Hälfte. Im Vergleich zu den 139 Milliarden Musikstreams des vergangenen Jahres liegt das nicht einmal mehr im Bereich von Spurenelementen. Auch die Schallplatte spielt in einer anderen Liga. Da gehe es seit 2007 stetig bergauf, sagt die Sprecherin. Im vorigen Jahr wurden mit Vinyl 99 Millionen Euro umgesetzt – gegenüber zwölf Millionen vor zehn Jahren. In kleinen Auflagen werden Kassetten immer noch gefertigt: Trotzdem scheint die Kassette nicht totzukriegen. Und das liegt auch an jungen Bands, die in ihr etwas Besonderes entdeckt haben. Für manche ist es ein Marketing-Gag, für manche ein Instrument des Widerstands oder der Distinktion. In kleinen und kleinsten Auflagen jedenfalls werden Kassetten immer noch gefertigt. In Deutschland geschieht das vor allem bei T.A.P.E. Muzik in Leipzig. Seit 2004 werden dort Tapes produziert und nach Firmenangaben in alle Welt versendet. Einige gingen auch nach Hamburg zu Marcel Gein. Er arbeitet bei dem Independent-Label Tapete Records, ist aber selbst Musiker und hat bislang drei Kassetten in Leipzig in Auftrag gegeben. „Ich fand das ganz nett“, sagt er. Bei der ersten hatte er seine Songs digital hingeschickt, nach zweieinhalb Wochen kamen sie als Kassette zurück. Bei den nächsten Lieferungen dauerte es länger – ein Zeichen, dass man in Leipzig mehr zu tun hatte. Vor allem seit 2017 sei die Nachfrage „enorm gestiegen“, bestätigte denn auch eine Sprecherin gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Verkauf bei Konzerten: Bei Tapete Records veröffentlichen sie ein, zwei Neuerscheinungen pro Jahr auch als Kassette, sagt Marcel Gein. Mal wünschten es die Bands selbst, mal schlügen sie es ihnen vor. Bei Auflagen von 50, maximal 100 falle der Umsatz gegenüber Vinylplatten, CDs oder digitaler Musik kaum ins Gewicht. Aber Kassetten kosteten in der Herstellung zwischen zwei und 2,50 Euro und ließen sich für fünf bis acht Euro verkaufen, also warum nicht. Von seinem eigenen zweiten Tape jedenfalls gingen in zwei Auflagen alle 100 weg. Und das in Zeiten, in denen in neuen Autos oft nicht mal mehr ein CD-Player zu finden ist. Aber bei Konzerten ließen sie sich am Merchandise-Tisch ganz gut verkaufen, sagt er. Er schätzt denn auch, dass die tatsächlichen Absatzzahlen etwa doppelt so hoch liegen wie die offiziellen. Vieles tauche in den Listen der Verbände gar nicht auf. Bis vor fünf Jahren hätten vor allem Punk- und Hardcorebands die Kassette geschätzt, sagt Marcel Gein. Inzwischen sei die Breite aber größer geworden. In der Tat: Madonna gibt es ebenso auf Tape wie Billie Eilish, Dua Lipa, Lana Del Rey, Guns ’n’ Roses oder Britney Spears. Björk hat gar ihr Gesamtwerk auf Kassette veröffentlicht. Und manchmal wird zum Band auch noch ein Download-Code mitgeliefert. Auf einer im Februar veröffentlichten Liste des US-Portals Discogs mit den 100 teuersten Kassetten finden sich neben etlichen Metalbands wie Metallica oder Marilyn Manson auch Coldplay, Bushido, Depeche Mode, Erasure, Eminem oder die Einstürzenden Neubauten. Platz zwei belegt mit 4117 Dollar The Artist (Formerly Known As Prince). Ganz oben rangieren Xero, die sich später Linkin Park nannten. Für ihr Album „Xero“ von 1997 auf Kassette zahlte ein Liebhaber bei Discogs 4500 Dollar. Aber die Auflagen sind klein: Laut dem „Musikexpress“ schaffen es in den USA pro Jahr nur etwa 25 Alben über die 1000er Marke. Ein kleines Kassetten-Revival: Auch Hollywood hatte seinen Anteil am Retro-Wirbel. Als Star Lord in der Marvel-Comic-Verfilmung „Guardians of the Galaxy“ vor vier Jahren auf einem Walkman Musik von einer Kassette hörte, war das für viele ungeheuer. Es reichte jedenfalls, um in den USA ein kleines Kassetten-Revival zu befeuern. Die Musik aus Star Lords Walkman, also der Soundtrack des „Awesome Mixtape Vol. 1“, hielt sich wochenlang an der Spitze der Billboard-Charts. 10cc und die Jackson Five waren darauf ebenso vertreten wie Norman Greenbaum und David Bowie, also die 70er, 80er Jahre. Und dann kam in der Fortsetzung das „Awesome Mixtape Vol. 2“ mit Sweet und George Harrison. Der Soundtrack wurde ebenso als Kassette verkauft wie der der Netflix-Serie „Stranger Things“. In Deutschland wusste immerhin noch jeder Zweite zwischen zehn und 18 Jahren, was ein Walkman ist. Das ergab eine Erhebung des Branchenverbands Bitkom vor zwei Jahren. Rund 85 Prozent gar konnten noch etwas mit einem Kassettenrekorder anfangen. Aber das ist vermutlich dem Aufwachsen mit „Benjamin Blümchen“ oder den „Drei Fragezeichen“ zu verdanken, die auch nach der Jahrtausendwende noch in Kinderzimmern aus Kassettenrekordern zu hören sind. Sony Music verkaufte 2019 nach eigenen Angaben immer noch 8000 bis 10 000 Kassetten von jeder neuen „Drei Fragezeichen“-Folge. Was manchmal gar nicht so einfach ist, wenn das Bandmaterial fehlt, wie eine Sprecherin sagte. Einige Veröffentlichungen auf Kassette hätten deswegen zurückgestellt werden müssen. In Deutschland hören laut einer repräsentativen Bitkom-Umfrage noch drei Prozent der Senioren Musik über dem Kassettenrekorder. Da mag natürlich auch Nostalgie im Spiel sein. Als aber in den USA die Modekette Urban Outfitters Kassetten von Superstars wie Kanye West oder Taylor Swift ins Sortiment nahm, hatte das mit Nostalgie wenig zu tun. Viele ihrer Kunden, sagte eine Sprecherin, seien zur Kassettenzeit ja noch gar nicht geboren gewesen. Von Peter Intelmann