Hannovers Totalkünstler Timm Ulrichs wird 80 Jahre alt

Nach allem, was man weiß, wird auch das Leben eines Totalkünstlers irgendwann mit dem Tod enden. Timm Ulrichs dürfte das finale Ereignis kaum überraschen, schon zu Beginn der 1970er-Jahre erschlug ihn angeblich ein Meteorit. „Aus heiterem Himmel“, wie er in einem von ihm verfassten „Extrablatt“ schrieb. Im „eigenen Bericht“ spekulierte Ulrichs über Umstände und Profiteure seines Ablebens. Die Kirche etwa, die nun einen radikalen Atheisten weniger verzeichnete. Dazu etliche Künstlerkollegen, die seinen „ständigen Einfallsreichtum“ jetzt nicht mehr zu fürchten hätten. „Innerhalb der Kunstkritik gelte ich ja als zweite oder dritte Liga“: Es war eine typische Arbeit: voller Paradoxien, verliebt in Sprache, sich selbst zum Objekt machend und immer im Raum die Frage, ob die mitunter zur Schau gestellte Großtuerei noch Spiel oder schon Ernst ist. Ein Lebensthema, wenn nicht künstlerisches Trauma für Ulrichs, der an diesem Dienstag 80 Jahre alt wird, ist ja bis heute die Auseinandersetzung mit dem Kunstbetrieb. Die am Telefon gestellte Frage, ob er sich unterschätzt gefühlt habe in all den Jahrzehnten, beantwortet er in seiner Geburtsstadt Berlin ohne Umschweife und eindeutig: „Ich fühle mich nicht unterschätzt, ich bin es einfach. Innerhalb der Kunstkritik gelte ich ja als zweite oder dritte Liga, so wie Kaiserslautern im Fußball.“ Jury lobt „unangepasste Existenz jenseits von Mainstream“: Dabei begann das Jubiläumsjahr erstklassig. Für sein umfangreiches und kaum noch überschaubares Lebenswerk aus Performance, Grafik, Fotografie, Skulpturen und Installationen ehrte ihn die Berliner Akademie der Künste mit dem Käthe-Kollwitz-Preis. Nie war ein Preisträger älter und so kam einiges an Ausstellungsmaterial zusammen, darunter etliche Klassiker. Timm Ulrichs als Blinder mit Krückstock und umgehängtem Plakat mit dem Text „Ich kann keine Kunst mehr sehen“. Die Tätowierung auf seinem Augenlid: „The End“. Sprachwerke wie die Inschrift auf seinem Grabstein: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Die Akademie würdigte mit ihrer Auszeichnung auch eine „unangepasste Existenz jenseits von Mainstream und Kunstmarkt“. Eine Formulierung, mit der Timm Ulrichs einverstanden sein dürfte. Zum Kunstbetrieb fällt ihm gerne die Geschichte ein, wie vor ein paar Monaten Kulturstaatsministerin „Frau Grütters bettelnd und auf Knien nach Köln rutschte“, um den Großkünstler Gerhard Richter um Leihgaben fürs künftige Museum der Moderne zu bitten. Tenor bei Ulrichs ätzender Kritik: immer dieselben Leute, die im Gegensatz zu ihm stets dieselben wenigen Ideen vermarkten. Sorge um den Nachlass: Passend zum renommierten Preis widmete die Akademie dem hannoverschen Künstler noch eine Ausstellung, später sollte im Berliner Haus am Lützowplatz eine lange geplante Werkschau folgen. Doch „Ich, Gott & Die Welt“ musste nach wenigen Tagen geschlossen werden. Das Virus erwies sich als stärker. Eine Fortsetzung ist beabsichtigt, abgesagte Ausstellungen in Celle und Worpswede sollen nachgeholt werden. Kunstsammler ignorieren Ulrich: Wer 80 Jahre alt ist, beschäftigt sich mitunter mit trüben Gedanken, nicht in Form imaginierter Festkörper aus dem All, sondern im Ernst. Timm Ulrichs sorgt sich um sein Werk. „Wer kümmert sich um meinen Nachlass, wenn ich morgen tot umfalle?“ Das in Hannover gesammelte Material wird ja nicht weniger und die Nachfrage stagniert. Für viele Stücke, die in der Akademie ausgestellt waren, soll es keine einzige Kaufanfrage von Museen oder Galerien gegeben haben, nicht einmal von den zahlreichen Sammlern, die der Künstler ohnehin für „Trottel“ hält. Ulrichs verschenkte dann einige Arbeiten ans Haus. Den Rest, erzählt er flapsig, schmiss er auf einen Lastwagen und fuhr mit seiner Kunst zurück nach Hannover. Lesen Sie auch: Käthe-Kollwitz-Preis für Timm Ulrichs Von Gunnar Menkens