Jonas Kaufmann singt in Fidelio am Royal Opera House London und im Kino

Der Mann hat einen Vogel. Doch federleichte Buntheit und anmutiger Gesang haben für ihn längst allen Wert verloren. Er schließt die Finger enger um das zarte Tier in seiner Hand, bis er es zerquetscht zu Boden schleudert. Die Natur soll erblassen vor seiner Tatkraft. Mit diesem symbolträchtigen Vogelmord betont der deutsche Regisseur Tobias Kratzer die Sonderstellung von Ludwig van Beethovens einziger Oper „Fidelio“. In seiner bis in die Personenführung sehr detailscharfen Inszenierung am Royal Opera House in London macht er auch sichtbar, wie weit der Komponist mit diesem Stück die Tür in die Zukunft der Oper aufgestoßen hat – und wie brutal seine Mittel dabei waren. Höhepunkt im Beethoven-Jahr: Der neue „Fidelio“ ist einer der Höhepunkte im aktuellen Beethoven-Jahr. Das liegt an der prominenten Sängerriege, die von Startenor Jonas Kaufmann angeführt wird, und mehr wohl noch an der enormen Reichweite, die Produktionen aus der britischen Hauptstadt entfalten können. Am Dienstag, 17. März, ist die Aufführung am Royal Opera House nicht nur in London, sondern zeitgleich in vielen Kinos auf der ganzen Welt zu sehen. Allein in Deutschland sind mehr als 200 Häuser mit von der Partie: „Fidelio“ als Blockbuster. Die Oper ins Kino zu holen hat sich als erstaunliche Erfolgsgeschichte erwiesen. Vor 17 Jahren hat die New Yorker Met damit als Pionier begonnen, fünf Jahre später stieg auch das renommierte Londoner Opernhaus in das Geschäft mit den Übertragungen ein. Seither wachsen Publikum und Angebot von Jahr zu Jahr. Zuschauerzahlen haben sich verdoppelt: Thomas Schülke kümmert sich seit 2016 darum, die Londoner Übertragungen nach Deutschland zu bringen. Allein in dieser Zeit hat sich die Zuschauerzahl verdoppelt: Rund 100.000 Menschen sind inzwischen in jeder Saison dabei – und Schülke glaubt, dass das Potenzial damit längst nicht ausgeschöpft ist. „Da ist noch viel Wachstum möglich“, sagt er. Die Kinoübertragungen hätten einen speziellen Reiz, weil sie eine Mischung aus Theater und Film seien, meint Schülke. „Die Kameras sind nicht einfach starr auf die Bühne gerichtet, die unterschiedlichen Einstellungen ermöglichen ein fast filmisches Erlebnis, das sich deutlich von einem Theaterbesuch unterscheidet.“ Gleichzeitig bliebe das besondere Flair der Liveaufführung erhalten, weil die Vorstellungen meist in Echtzeit übertragen werden. Riskantes Zusammenspiel: Damit wird das Risiko einer Opernvorstellung auch im Kino spürbar. Was unter Livebedingungen passieren kann, war jetzt in London bei einer „Fidelio“-Aufführung vor der Übertragung zu ahnen: Wenn am Ende der Oper der große Schlusschor anhebt, muss Dirigent Antonio Pappano zu sehr großen Gesten greifen, um Sänger und Orchestermusiker zumindest noch ungefähr zusammenzuhalten. Ansonsten ist Pappano, der seit 2002 Musikdirektor am Covent Garden ist, ein Garant für die hohe musikalische Qualität der Aufführungen. Seine stilistische Bandbreite macht ihn zu einem idealen Dirigenten gerade für ein Stück wie „Fidelio“, das extrem unterschiedliche Elemente in sich vereint. Leicht und locker tönen bei ihm die Passagen, in denen Beethoven die Tradition des Singspiels fortführt. Gleichzeitig macht er die Bezüge hörbar, die von Beethoven zu späteren Komponisten wie Carl Maria von Weber und vor allem Richard Wagner führen. Wenn die Musik dunkel dräuend die Düsternis des Kerkers beschreibt, in dem der zweite Teil der Oper spielt, muss man sich in London schon an die felsschroffe Harmonik der Nibelungen im „Rheingold“ erinnert fühlen. Ende des Wohlklangs: So liefert Pappano die musikalische Grundlage, auf der Regisseur Kratzer seine Bilder aufbaut. Zu Beginn der Oper, wenn die Musik noch klingt wie eine andere „Zauberflöte“, werden als Gruß an diese Vorlage die Käfige eines Vogelfängers auf die Bühne getragen. Später wird der Finsterling Pizarro sich einen dieser Vögel greifen und ihn zerquetschen. Die Harmonie vergangener Tage wird gewaltsam ausgetrieben: Wer wie Beethoven das Elend einer Kerkerhaft beschreibt, kann nicht länger nur auf Wohlklang setzen. Das Vogelbild spiegelt im Kleinen den Bruch im Stück, den Kratzer auch im großen Rahmen zeigt: Für den ersten Akt hat Ausstatter Rainer Sellmaier ein fast naturalistisches Bühnenbild entworfen. Im zweiten Akt dagegen zeigt er den Kerker als eine Art anatomisches Theater der Seele: Ein nackter Fels ist umgeben von hell ausgeleuchteten Sitzreihen, auf denen eine große Menschenmenge genau beobachtet, wie ein Mensch sich quält. Paradepartie für Kaufmann: Dieser innere Fels ist die Plattform für Kaufmann, der als dort angeketteter Florestan eine seiner Paradepartien entfalten kann. Zwar kommen seine berühmten ersten Worte („Gott! Welch Dunkel hier!“) nicht mehr ganz so spektakulär aus dem Nichts wie früher, und auch sonst ist er hörbar darauf bedacht, seine Kräfte gut einzuteilen. Doch sein dunkel grundierter Tenor scheint immer noch perfekt dafür geeignet, um die Partie dieser schmerzerfüllten Figur auszufüllen. Die eigentliche stimmliche Sensation ist ohnehin die norwegische Sopranistin Lise Davidsen, die eine in jeder Hinsicht große Leonore gibt. Und auch das übrige Ensemble um Georg Zeppenfeld als Rocco liefert reihenweise starke Argumente dafür, Oper einmal im Kino auszuprobieren. „Fidelio“ mit Jonas Kaufmann ist in Hannover am Dienstag, 17. März, ab 20.15 Uhr im Astor Grand Cinema und im Cinemaxx am Raschplatz als Liveübertragung aus London zu sehen. Die nächsten weiteren Produktionen sind „Schwanensee“ (1. April) und „Cavalleria rustivana/Pagliacci“ (21. April). Aus der New Yorker Met werden „Der fliegende Holländer“ (Sonnabend, 14. März, 18 Uhr) und „Tosca“ mit Anna Netrebko (11. April) in Hannover gezeigt. Lesen Sie auch: Das Beethoven-Jahr beginnt in Bonn. 32 mal Beethoven: Ein neuer Klavier-Podcast mit Igor Levit. Von Stefan Arndt