Dieser Querdenker-Studiengang in Hildesheim ist eine Erfolgsgeschichte

Wörtlich übersetzt bedeutet „State of the Art“ nicht „auf dem aktuellsten Stand“, sondern „Zustand der Kunst“ – an der Universität Hildesheim wurde gerade in dem gleichnamigen, studentisch organisierten Festival wieder einmal danach gefragt, in welchen Zustand sich die Künste wohl im Fachbereich Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation befinden. Dort wird interdisziplinär studiert, mit einer etwa gleichen Gewichtung von Theorie und Praxis. Ein so starkes Einbinden künstlerischer Praxis in einen Kunstvermittlungsstudiengang ist bis heute einzigartig, obwohl es inzwischen laut der Kulturpolitischen Gesellschaft etwa 340 solcher Studiengänge in Deutschland gibt. Nun feiert der Fachbereich sein 40-jähriges Jubiläum: Im Jahr 1979, als in Hildesheim die Testphase eines zunächst „Kulturpädagogik“ genannten Diplomstudiengangs begann, war er der erste seiner Art. „Das zielte ursprünglich auf außerschulische Bildung ab“, sagt Birgit Mandel. Sie war 1982 eine der ersten Studentinnen, die die neu eingeführte Eignungsprüfung absolvieren mussten – die Nachfrage war so groß geworden, dass Studieninteressenten nachweisen mussten, dass sie einerseits über praktische Erfahrungen in einer künstlerischen Disziplin verfügen, andererseits aber auch in der Lage sind, Kunst zu reflektieren und zu beschreiben. Heute ist Birgit Mandel Professorin für Kulturmanagement und Kulturvermittlung, Direktorin des Instituts für Kulturpolitik – und Vizepräsidentin der Kulturpolitischen Gesellschaft. Ihr Institut beherbergt seit 1998 die erste und bis heute einzige Professur für Kulturpolitik in den inzwischen etwa 50 deutschen Studiengängen für Kulturmanagement. Vor allem durch das Engagement des vor wenigen Wochen verabschiedeten Gründungsprofessors Wolfgang Schneider wurde Kulturpolitik zum Hildesheimer Kernfach. Der Fachbereich Kulturwissenschaften richtete 1983 aber auch die erste und bis heute einzige Professur für Populäre Kultur ein. Deren Gründungsprofessor Hans-Otto Hügel ist seit acht Jahren emeritiert. Er war ein Pionier der Popkulturforschung, hielt seine Antrittsvorlesung über einen Song von Udo Lindenberg, bot erste Seminare über Fernsehserien an und war 16 Jahre lang Literatur- und Medienexperte in Wim Thoelkes Quizshow „Der große Preis“. Sein Nachfolger Stefan Krankenhagen schloss sein Studium der Kulturwissenschaften 1996 in Hildesheim ab und ist aktuell Dekan des Fachbereichs. „Hügels Grundlagenarbeit über Massenphänomene ist getan“, sagt er. Heute sei Pop im Grunde alles und überall. Also forscht er spezifischer: an Konsumkultur. Bei Bedarf quer denken: Seit 1979 sind etwa 4200 Absolventen der Hildesheimer Kulturwissenschaften, die heute unter anderem solche Bachelor- und Masterstudiengänge wie „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“, „Inszenierung der Künste und der Medien“ oder „Kulturvermittlung“ beinhalten, zum Beispiel als Dramaturgen erfolgreich, als Lektoren, Kuratoren, Kunstvermittler oder Kulturjournalisten. Also in Berufen, in denen es hilft, eine breite Perspektive auf Kultur mitzubringen, sich zu ästhetischen Phänomenen unvoreingenommen eine Meinung bilden zu können – und bei Bedarf produktiv quer zu denken. Das Studienangebot entwickelt sich entlang einer im ständigen Fluss befindlichen Kultur. Im Musikinstitut wurde eine Professur für Popular Music Studies eingerichtet – mit dem Schwerpunkt Audiokultur. Studenten und Absolventen der Hildesheimer Kulturwissenschaften waren seit den frühen Achtzigerjahren maßgeblich an der Entwicklung freier Kulturszenen beteiligt, vor allem in den darstellenden Künsten. Vor 30 Jahren erfanden sie zum Beispiel mit dem Forum Heersum das Format des partizipativen XXL-Dorftheaters. Der Schauspieler, Chorleiter und Regisseur Florian Brandhorst, selbst Hildesheimer Absolvent und 1988 Gründungsmitglied des freien Theaters Aspik, ist stolz darauf, etwas mit erfunden zu haben, das Generationen von Kulturwissenschaftlern inspirierte – wie übrigens auch den Kerngedanken und das Motto der Hildesheimer Kulturhauptstadtbewerbung: „Rosen und Rüben“. Belebende Wirkung: Mit innovativen Formaten, Beteiligungsideen und diskursiven Stückentwicklungen haben Theatermacher aus den Hildesheimer Kulturwissenschaften die freie Theaterszene immer wieder belebt, Gruppen wie Markus & Markus, Frl. Wunder AG, Turbo Pascal oder Pulk Fiktion sind auch überregional erfolgreich. Dass dabei auch bestes Handwerk im Mittelpunkt stehen kann, beweist aktuell die Theaterwerkstatt im hannoverschen Pavillon mit dem Stück „Die heimliche Insel“, bei dem gleich vier Absolventen glänzen: Regisseurin Sabine Trötschel, Schauspieler Matthias Buss, Theatermusiker Heino Sellhorn und Kostümbildnerin Ruth Rutkowski. Die Strukturen der freien Kultur haben sich indes verändert. „Sind Kulturwissenschaftler immer noch die, die sich ihre Jobs selbst erfinden?“, fragt Krankenhagen und stellt gleich die Gegenfrage: „Oder sind wir heute eher die, die dafür sorgen, dass die etablierten Jobs gut besetzt werden können?“ Viele Absolventen des Hildesheimer Literaturinstituts, das neben dem in Leipzig das einzige literarische Schreibstudium in Deutschland anbietet, sind im Verlagssystem erfolgreich – dazu zählt neben Jo Lendle oder Paul Brodowsky auch Juan S. Guse, der für die Kulturhauptstadtbewerbung Hannovers das Bewerbungsbuch als Roman verfasste. „Die Pose als Praxis“: Das Ringen um das Verhältnis von Theorie und Praxis, die sich gegenseitig befruchten sollen, bewegt die Hildesheimer Kulturwissenschaften bis heute. „Wie generieren wir Wissen?“, fragt Krankenhagen und deutet an, praktisches Handeln sei ein wichtiger Faktor, ebenso wie die gemeinsame Kommunikation über individuelle Erfahrungen. Am anschaulichsten illustriert das vielleicht zurzeit seine Promovendin Marie Simons, die „die Pose als Praxis in der populären Kultur“ erforscht – am Beispiel von Bodybuilding und Professional Wrestling. Bei diesen Schowsportarten, gehe es vor allem darum, sich in ein besseres Bild zu verwandeln als die Konkurrenten, erklärt sie und fragt: „Zu welchem Anteil besteht Kultur aus Pose?“ Um das herauszufinden, nimmt sie unter anderem selbst an entsprechenden Workshops teil. Beim nächsten Treffen will sie den anderen Mitgliedern des Graduiertenkollegs „Ästhetische Praxis“ schon mal zeigen, welche Posen sie dabei gelernt hat. HAZ-Autor Thomas Kaestle ist selbst Absolvent des Hildesheimer Fachbereichs Kulturwissenschaften. Er lehrte dort an den Instituten für Bildende Kunst und für Kulturpolitik, schloss seine Promotion in Kulturpolitik jedoch nicht ab. Er arbeitet heute als freier Kulturjournalist, Kunstvermittler, Kurator und Moderator, ist Mitglied der Expertenkommission für Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Hannover und der Theaterjury des Bremer Kultursenators. Von Thomas Kaestle

Kulturwissenschaften in Hildesheim - die Erfolgsgeschichte eines ungewöhnlichen Fachbereichs