Rastlos: Staatsoper Hannover zeigt Choreografien von Juliano Nunes, Jirí Kylián und Lukáš Timulak

Die Bretter, die die Welt bedeuten, sind gezeichnet von den Spuren des Ortes, an denen sie ausliegen. Kratzer, Schrammen und hartnäckige Reste von Klebeband haben sich im Laufe der Jahre eingeschrieben in den hölzernen, schwarz getünchten Boden: Die Bühne der Staatsoper Hannover ist so von Grund auf unverwechselbar geworden. Man muss nicht erst scheinbar charakteristische Bereiche wie den Zuschauerraum sehen, um sofort zu begreifen, wo man ist. Das fällt eigenartigerweise besonders auf, wenn man – wie jetzt – nicht mehr leibhaftig dort sein kann. Am Wochenende hätte der geschichtsträchtige Boden die neueste Premiere des Hauses tragen sollen – den Ballettabend „Rastlos“. Anders als beim Lockdown im Frühjahr machen die Corona-Beschränkungen aber nicht die Arbeit der Künstler unmöglich, sondern nur den Besuch von Publikum. So konnte das Ballett am Sonntag die frisch fertig geprobte Produktion statt als Premiere zumindest als Geistervorstellung aufführen und ins Internet übertragen. Geheime Zeichen: Gleich zu Beginn fährt die Kamera dabei beiläufig über den Boden und schafft so eine zarte Verbindung zwischen Zuschauer und Aufführenden: Der überraschend vertraute Grund wird zu einem geheimen Zeichen, das beide Seite kennen. Es verschafft immerhin eine Illusion von Nähe und hilft dabei, Anwesenheit vorzugaukeln. Beide Faktoren sind eigentlich unverzichtbar, denn Theater lebt von der Begegnung zwischen Künstlern und Zuschauern, und es wird befördert von der Aura des Ortes, an dem es stattfindet. Bei einer Aufführung wird das Theater im (gar nicht so seltenen) Idealfall zu einem Erlebnisraum, der die Sinne aller Menschen darin zu schärfen vermag. Jeder Künstler kann davon berichten, wie es ist, die Energie eines Publikums zu spüren. Und umgekehrt kann man auch als Zuschauer von einer Aufführung ausgefüllt und berührt werden und auf diese Weise etwas erleben, was keiner Alltagserfahrung gleicht. Wahrscheinlich ist es diese fast mystische Eigenschaft des Theaters, die viele Künstler gerade dazu bringt, empört zu reagieren, wenn ihr Gewerbe bei Corona-Regelungen als prosaische Freizeitbeschäftigung kategorisiert wird. Besonders offensichtlich wird die besondere Kraft des Theaters in einer sprachlosen Kunst wie dem Tanz: Hier werden keine philosophischen Inhalte erörtert, und kein gesellschaftlicher Diskurs geführt, und doch ist meist sehr genau zu verstehen, worum es geht. In den besten Momenten erscheint die Sprachlosigkeit sogar ganz natürlich, weil Dinge berührt werden, für die es gar keine Worte gibt. Ein Abend, drei Choreografien: Ein solches Stück ist wahrscheinlich „Moonlight“, das der junge brasilianische Choreograf Juliano Nunes jetzt für das Staatsballett entwickelt hat. Es steht am Anfang des dreiteiligen Abends „Rastlos“, den Hannovers Ballettdirektor Marco Goecke aus drei sehr unterschiedlichen Choreografien zusammengestellt hat. Außer der neuen Arbeit gehört „Double You“ dazu, ein intensives Solostück des legendären Choreografen Jirí Kylián aus dem Jahr 1993, das Tänzer Tommy Rous neu zum Leben erweckt. Und in „Masculine/Feminine“ hat Lukáš Timulak schon 2011 auf rasant unterhaltsame Weise den kleinen Unterschied zwischen den Geschlechtern erklärt. Der Titel von „Moonlight“ sollte sich ursprünglich auf Beethovens „Mondscheinsonate“ beziehen, doch bald stellte sich heraus, dass der berühmte erste Satz dieses Klavierstücks zu kurz für eine vollständige Arbeit ist. Also entschied sich Nunes für ein nach seinem Empfinden ähnliches, aber wesentlich längeres Werk: den dritten Satz aus Beethovens geheimnisvoller „Hammerklaviersonate“. In seiner Choreografie bemüht sich Nunes gar nicht erst, die Musik mit passenden rhythmischen Bewegungen zu illustrieren. Er interessiert sich eher dafür, den verdeckten Unterströmungen im Klang nachzuspüren und mal in Soloauftritten mal in Gruppenszenen sichtbar zu machen, was dieser Sonatensatz bei verschiedenen Hörern auslösen kann. Es ist ein Stück, das den Zuschauer nicht überrennt, sondern zur konzentrierten Versenkung einlädt. Der kalte Blick: Ohne Anwesenheit und Nähe ist das aber kaum möglich. In der Videoübertragung werden Ausdruck und Anmut auf Technik reduziert: Man kann die perfekt abgezirkelten Bewegungen der Tänzer bewundern, aber kaum spüren, welche Wirkung davon ausgeht. Als Kenner mag man sich auch am Bildschirm erfreuen an Klarheit und Geheimnis der Choreografie, an der großen Qualität des Tanzes und der raffiniert reduzierten Ausstattung von Thomas Mika. Als Theaterliebhaber aber muss man enttäuscht sein von einer Videoübertragung: Auch die besten Kameras und Mikrofone können nur einen Teil dessen hör- und sichtbar machen, was sich auf der Bühne ereignet. Für den eigentlichen Zauber einer Aufführung gibt es kein Übertragungsmedium. Kunst braucht Erlebnisraum: Der Ballettabend „Rastlos“ mit Choreografien von Juliano Nunes, Jirí Kylián und Lukáš Timulak ist als Videoaufzeichnung der Aufführung vom 8. November bis zum 30. November auf der Webseite der Staatsoper zu sehen. Reguläre Vorstellungen mit Publikum sind nach Ende des Teil-Lockdowns am 8., 15., 26. und 30. Dezember geplant. Nach den zunächst hoffnungsvollen Experimenten des ersten Lockdowns ist das bei den erneuten Theaterschließungen nun von Beginn an in voller Härte zu spüren. Anders als der öffentliche Erlebnisraum Theater, der Sinne öffnet, ist das heimische Wohnzimmer ja gerade ein Schutzraum, der äußere Einflüsse abwehrt. Ohne offene Spielstätten kann diese Kunst nicht überleben. Lesen Sie auch: Staatsoper Hannover zeigt Choreografien von Marco Goecke in Herrenhausen Von Stefan Arndt