Warum Champagner das Getränk der Stunde ist

Wie würden sie ihn feiern, wenn Covid-19, dieser Spielverderber 2020, nicht wäre: „Fledermaus“-Galas im Opernhaus zum Silvesterabend oder zumindest ein leicht verkatertes Johann-Strauss-Zitat im Neujahrskonzert würden ihn preisen: „Die Majestät wird anerkannt im ganzen Land, jubelnd wird Champagner die Erste sie genannt.“ In Wirklichkeit haben die Champagner-Winzer wenig Grund zum Jubeln. Dabei wäre Champagner, wenn man Napoleon Bonaparte glauben mag, das Getränk der Stunde. Er soll gesagt haben: „Nach dem Sieg verdienst du ihn, nach der Niederlage brauchst du ihn.“ Doch wer in diesem Jahr Sieger und Verlierer ist, wird noch ausgezählt. In der Champagne wurde derweil wegen eingebrochener Nachfrage die erlaubte Erntemenge in den Weinbergen begrenzt. Überflüssiger Wein: Auch die anderen Sektproduzenten hoffen, dass wenigstens die Kernfamilien zum Jahreswechsel dafür sorgen, dass der Sekt fließt. In den vergangenen Jahren verkauften die großen Sekthäuser ein Fünftel ihrer Jahresproduktion im Dezember. Aber in diesem Krisenwinter: keine Weihnachtsfeiern, kein perlender Aperitif im Restaurant, kaum Umsatz. Und wie viel Schaumwein schaffen maximal fünf Menschen aus zwei Haushalten (oder so ähnlich). Dass Kinder unter 14 nicht zählen, hilft da wenig. Die sollten eh keinen Alkohol trinken. Wer sich aber zu Überschäumendem aufrafft, ist schnell verwirrt, denn nicht alles, was schäumt, ist Schaumwein, was perlt, kann auch blanker Perlwein sein. Unsere Älteren kannten das einst noch als Moseltröpfchen: mediokrer Wein, dem Kohlensäure zugeführt wurde. Infusionsmethode heißt das weintechnisch und das klingt nicht sehr vertrauensbildend. Was in den Supermarktregalen als Secco herumsteht, ist meist überflüssiger Wein, der mit Gas aufgepumpt wurde, aber sich offenbar so gut verkauft, dass auch seriösere deutsche Winzer ihre Seccos auf der Weinliste haben. Wenn auf dem Etikett das Wort Frizzante steht, klingt das zwar animierend, ist aber auch nur Perlwein. Italienischer Sekt heißt Spumante. Und wenn wir schon dabei sind: Procecco ist kein italienisches Synonym für Sekt, sondern der Name einer Rebsorte, die seit gut zehn Jahren außerhalb ihres eng begrenzten Stammgebiets im Veneto nur noch Glera heißen darf. Übrigens eine Weißweinrebsorte, rosa Prosecco ist trotzdem möglich, weil da bis zu 15 Prozent Rotwein hinzugefügt werden darf. Besser keinen Billigsekt: Wer jetzt schon genug verwirrt ist, darf sich mit einer Milchmädchenrechnung ablenken und lernt schnell, warum man besser keinen Billigsekt trinkt. Nehmen wir das beliebte Sonderangebot für 3,33 Euro. Geht die Mehrwertsteuer ab, bleiben derzeit drei Euro, von denen der Staat weitere 1,02 Euro kassiert: Sektsteuer. 1902 eingeführt von Kaiser Wilhelm II. zur Finanzierung der Kriegsflotte und des Kaiser-Wilhelm-Kanals. Der Kaiser ging nach der Niederlage 1918 stiften, die Flotte war größtenteils versenkt. Immerhin ist der Kanal, der heute Nord-Ostsee-Kanal heißt, noch voll, wenn auch dringend reparaturbedürftig. Von den jetzt nicht mal mehr zwei Euro gehen mindestens 50 Cent für Produktion und Verpackung ab. Plus Transport und Verdienstspannen. Da darf der Wein kaum einen Euro kosten. Trinken Sie Wein für diesen Preis? Nur nebenbei: In der Champagne bekommen in diesem Sommer die Winzer für die Trauben, die man für eine Flasche Champagner braucht, etwa sieben Euro. Aber es muss kein Champagner sein, auch kein Crémant, wie die Konkurrenz aus anderen französischen Weinbaugebieten heißt. Es gibt sehr guten Schaumwein, der seine Perlen der zweiten Gärung verdankt (am liebsten in der Flasche, preisgünstiger in Tank). Spumante aus Italien, Cava aus Spanien, sehr guten Sparkling aus Südengland (leider teuer), aus Australien (gerne auch dunkelrot). Und natürlich aus heimischen Landen. Schon immer gab es eine deutsch-französische Sektfreundschaft: Mumm, Deutz und Heidsick sind deutsche Namen, der Heilbronner Georg Christian Kessler, der 1826 die erste deutsche Sektkellerei gründete, hatte zuvor zwanzig Jahre im Hause Veuve-Clicquot gearbeitet, bis er sich mit der berühmten Witwe überwarf. Siegeszug des Winzersekts: Deutscher Winzersekt war seit Langem der Stolz jedes ambitionierten Weinmachers (für die Weinmacherinnen sei stellvertretend Eva Fricke aus Eltville genannt), in den letzten Jahren hat er einen – wenn auch mengenmäßig überschaubaren – Siegeszug angetreten. Nur jeder Fünfte bevorzugt beim Anstoßen in der Silvesternacht trockenen Sekt, wie eine neue repräsentative Umfrage zeigt. 19 Prozent greifen zu halbtrockenem Sekt und 16 Prozent zu süßem Sekt. 9 Prozent mögen Sekt mit Orangensaft zu Silvester. Puren Orangensaft favorisieren demnach 13 Prozent zum Jahreswechsel, 16 Prozent trinken lieber was ganz anderes, der Rest machte keine Angabe. Das Meinungsforschungsinstitut Yougov befragte fast 2100 Menschen ab 18 Jahren. Sehr auffällig ist die wachsende Vorliebe für trockenen Sekt mit dem Alter. So sagt mehr als jede oder jeder Vierte über 55 Jahre (27 Prozent), dass sie oder er trockenen Sekt bevorzuge. Bei den 18- bis 24-Jährigen sind es dagegen nur 4 Prozent. Da kann man preislich schon mal in Champagner-Regionen kommen, aber es gibt auch sehr genussreichen deutschen Winzersekt für einen niedrigeren zweistelligen Betrag. Aber man gönnt sich ja in diesen Zeiten sonst nicht viel. Wer heute, und es muss ja nicht erst um Mitternacht sein, mit Überschäumendem anstößt, sollte auf die Perlage achten: Je feiner und langlebiger die Perlen im Glas sind, desto besser ist der Sekt. Obendrein symbolisieren Perlen in den meistens Kulturkreisen das Glück. Dass sie manchmal auch für Tränen stehen, passt wiederum zu diesem sehr speziellen Jahreswechsel. Na dann prosit. Von Rainer Wagner