Werner Wölbern spielt Dorfrichter Adam in Kleists „Der zerbrochne Krug“

Es ist ein kaltes Stück. Eine Spur im Schnee bringt am Ende die Aufklärung. Es ist ein Lustspiel, aber eines, bei dem ein eisiger Hauch durch die Dialoge weht. „Der zerbrochne Krug“, verfasst von Heinrich von Kleist zwischen 1802 und 1806 im Rahmen eines Wettbewerbs unter Schriftstellerkollegen, erzählt von einem Provinzrichter, der über so etwas Profanes wie das Zerscherben eines Kruges urteilen soll und am Ende selber angeklagt ist. Es geht um Zudringlichkeit, Rechtsbeugung, Erpressung und Betrug. Der Kältehauch, der in dieser Komödie zu spüren ist, stammt aus der Zukunft. Mit Gerichtsrat Walter, der die Rechtsprechung in der Provinz mal genauer inspizieren soll, kommt ein Vertreter effizienter Rechtsstaatlichkeit ins beschauliche Landgericht. Oft wird dieser Walter als kalter Unsympath dargestellt. In der Inszenierung von Lisa Nielebock, der dritten Premiere des großen Spielzeiteröffnungswochenendes am Schauspiel, spielt Mohamed Achour den Walter alles andere als kalt und unsympathisch. Er zeigt keinen kühlen Technokraten des Rechts, sondern einen warmherzigen Aufklärer, dem es eine Herzensangelegenheit zu sein scheint, dass Rechtsprechung auch in der Provinz nicht den Gewohnheiten, sondern den Gesetzen folgt. Die Akteure: Gar nicht unsympathisch: Richter Adam, an den er hier gerät, ist kein großmäuliger Schwadroneur, kein Lebemann, sondern eine Art Verwaltungschef der eigenen Persönlichkeit, ein Provinzbürokrat, freundlich, zugewandt, versiert. Auch er: gar nicht unsympathisch. Werner Wölbern, der für diese Produktion als Gast ans Schauspiel kam, spielt den Adam mit großer Zurückhaltung, aber nicht gebremst. Er zeigt den freundlichen Richter von nebenan. Er spricht unangestrengt mit großer Klarheit, alle Pausen sind klug gesetzt, Kleists Sprache funkelt und glänzt. Die Lücken im System verschwinden: Richtig böse ist hier niemand. Auch der Schreiber Licht nicht, dem Torben Kessler etwas überaus Elastisches und verblüffend Tänzerisches verleiht. Aber etwas Böses ist doch die ganze Zeit zu spüren. Regisseurin Lisa Nielebock hat alle Akteure in eine riesige Holzkiste mit schiefen Wänden (Bühne: Oliver Helf) gesteckt. Das wirkt alles sehr warm und die Funktionstische, an denen die Sache mit dem Krug und dem Begehren und der Lüge verhandelt wird, könnten aus Seminarräumen stammen, in denen sonst Antiaggressionstraining angeboten wird. Immerhin vertragen sie es umgestoßen und übereinandergeworfen zu werden – was am Ende, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, auch geschieht. Dann richten sich auch die schiefen Wände auf; die alten Lücken im System verschwinden und die Menschen sind eingesperrt in einer neuen Ordnung. Die Wirkung der Inszenierung hält sehr lange an: Die Kostüme (Ute Lindenberg) wirken wie Alltagskleidungsstücke von heute – aber nicht ganz, die Farben zeigen, dass hier ein breites Spektrum der Bevölkerung anzutreffen ist. Eve (Tabitha Frehner) tritt im blauen Hoodie vors Gericht, Frau Marthe (Sabine Orléans) bringt die Scherben des Kruges im Rucksack mit. Diese Verweise auf uns, auf heute, auf eine Gesellschaft, die sich einrichtet im Falschen, weil es das Richtige vielleicht gar nicht gibt, formuliert die Regisseurin nicht überdeutlich, sondern ganz leicht, wie nebenbei. In dieser Inszenierung des mehr als 200 Jahre alten Stück kommt einem vieles ganz unangestrengt sehr nah. Dass die Akteure ihrerseits coronabedingt auf Distanz spielen, fällt nicht weiter auf. In einer Stunde und zwanzig Minuten ist alles erzählt – aber die Wirkung hält sehr lange an. Weitere Vorstellungen: Mittwoch, 30. September, Donnerstag, 1., Sonnabend, 10. und Sonntag, 11. Oktober, im Schauspielhaus. Lesen Sie auch Mohamed Achour hat Erfahrungen mit rassistischen Zuschreibungen gemacht Spielzeiteröffnung II: Liv Strömquists „Der Ursprung der Welt“ Spielzeiteröffnung I: „Don Karlos“, inszeniert von Laura Linnenbaum Von Ronald Meyer-Arlt