Tübingen: Theologe Hans Küng mit 93 Jahren gestorben

Es gibt eine Doppelbiografie über die beiden. Schließlich waren die Lebensläufe der wirkmächtigsten Theologen der Nachkriegszeit geradezu schicksalhaft miteinander verbunden. „Der mit dem Fahrrad und der mit dem Alfa kam“ hat Buchautor Freddy Derwahl vor Jahren sein Werk über die beiden Gelehrten genannt, die Ende der Sechzigerjahre Seite an Seite als Professoren in Tübingen lehrten, ehe ihre Wege sich trennten. Der mit dem Fahrrad, das war Joseph Ratzinger, der später im Vatikan Karriere machte. Und der mit dem sportlich-schnittigen Alfa, das war Hans Küng. Die Verkehrsmittel, mit denen sie sich bewegten, standen für Fortschrittsskepsis und Langsamkeit einerseits – und für Moderne, für Schnelligkeit und Wendigkeit andererseits. Ratzinger sei ein Idealist gewesen, urteilte Derwahl, und Küng ein Realist. Einer, der für einen pragmatischen Kurs der Kirche stritt, für lebensnahe Moralvorstellungen und gegen Überhöhung des Klerikalen. So wurde er zur Galionsfigur der Reformer in der katholischen Kirche. Jetzt ist Küng im Alter von 93 Jahren verstorben. Ein liberaler Intellektueller: Küng, geboren 1928 als Sohn eines Schuhhändlers in Sursee in der Schweiz, hatte Anfang der Sechziger gemeinsam mit Ratzinger als „Teenager-Theologe“ das Zweite Vatikanische Konzil begleitet. Im Jahr 1960 wurde er Professor für Fundamentaltheologie in Tübingen, bald empfing Kennedy den aufstrebenden Junggelehrten im Weißen Haus, und über die Jahre rückte der Katholik in den Kreis des bundesrepublikanischen Geistesadels auf – ein liberaler Intellektueller wie Walter Jens oder Günter Grass. In gutbürgerlichen Bücherschränken durften Küng-Bestseller wie „Existiert Gott?“ oder „Christ sein“ in den Siebzigern nicht fehlen. In seinen Werken wagte Küng nicht nur Neuinterpretationen, die den alten christlichen Glauben gesellschaftlich anschlussfähig hielten. Er stellte auch immer wieder kirchliche Dogmen in Frage. Dabei wurde er zum liberalen Antipoden des konservativen Ratzinger. Ein Gegenpapst zum späteren Papst. Vatikan entzieht ihm 1979 die Lehrerlaubnis: Als der Vatikan dem notorisch liberalen Küng 1979 die Lehrerlaubnis entzog, machte der Streit weltweit Furore. Seine Popularität befeuerte dies eher noch. Am Ende wurde Küng der erste Professor für ökumenische Theologie, auf einem eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl. Er heimste zahlreiche Ehrendoktorate und Auszeichnungen ein. Und wenn es um Pille oder Zölibat ging, vertrat der Unbeugsame verlässlich eine Meinung, die diametral zu der des Vatikans stand. Die Kirche sei zu einer „geistlichen Diktatur“ geworden, wetterte er 2011 in seinem Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“. Forderungen bis heute aktuell: Viele Forderungen, die in der katholischen Kirche heute wieder mit Verve diskutiert werden, trieben Küng schon vor Jahrzehnten um – die Sexualmoral, die Rolle der Frau, die vermeintliche päpstliche Unfehlbarkeit. Dies zeigt einerseits, wie weit der Visionär Küng seiner Zeit schon damals voraus war. Doch es zeigt andererseits auch, wie wenige Erfolge er letztlich verbuchen konnte. Dabei sind Küngs Thesen unter Deutschlands Katholiken wohl seit vielen Jahren mehrheitsfähig. Der Kirchendissident war ein sehr etablierter Rebell. Eine Rolle als Brückenbauer fand Küng im Alter dann doch noch. Mit seiner Stiftung Weltethos setzte der emeritierte Professor sich für eine globale Moral ein. Dabei sah er die großen Religionen als Friedensstifter, die gemeinsam für Menschlichkeit, Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit eintraten. „Menschen unterschiedlicher Herkunft brauchen einen gemeinsamen Grundbestand an Werten“, sagte er – alle großen Religionen verkündeten ähnliche Grundprinzipien. „Er hat nicht nachgetreten“: Mit dieser Botschaft reiste er durch die Welt, hielt Vorträge in China, trat bei TV-Diskussionen im Oman auf. „Wir brauchen keinen Kampf der Kulturen, wir brauchen Dialog“, forderte er eindringlich. Von Rom rehabilitiert wurde er offiziell nie, aber als Ratzinger Papst geworden war, lud er ihn in den Vatikan ein. Zu einem Gespräch unter vier Augen. „Wir haben freundschaftlich miteinander geredet, er hat nicht nachgetreten“, sagt Küng. Er hielt den Papst nach wie vor nicht für unfehlbar, der Papst ihn auch nicht, aber irgendwie hatten beide ihren Frieden miteinander gemacht. Vermutlich, weil sie beide inzwischen Wichtigeres zu tun hatten, als sich zu streiten. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, würdigte Küng jetzt als „anerkannten und streitbaren Forscher“. Die Reformgruppe „Wir sind Kirche“ lobte seine lebenslange Beharrlichkeit und seinen Einsatz für den Dialog der Weltreligionen. Zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen: In den vergangenen Jahren hatte sich Küng wegen seines Gesundheitszustands zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er litt an Parkinson, wie er 2013 auch in seiner Autobiografie öffentlich gemacht hatte. Darin kündigte er auch an, notfalls mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden zu wollen. „Ich will nicht als Schatten meiner selbst weiterexistieren“, erklärte er. So machte er noch den eigenen Tod zum Politikum. Am Glauben, dass es ein Leben danach gebe, hielt er ausdrücklich fest. Anders als Uta Ranke-Heinemann, eine andere Kirchendissidentin, blieb er dem traditionellen Christentum bei aller Kritik verbunden. Er trat auch nie, wie Eugen Drewermann, aus der Kirche aus. Wie eine Sprecherin der Stiftung Weltethos mitteilte, ist Küng friedlich in seinem Haus in Tübingen eingeschlafen. Von Simon Benne