Die Wolfsmutter: Simone Buchholz schreibt Krimis, die keine Krimis sind

Stepanovic ist gerade in der 14. Etage angekommen, und man will sich gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, 14 Etagen mit einer Leiter in einem engen Versorgungsschacht hoch, und auch noch schnell. Jetzt hört er den Knall. Absatz. „Es könnte alles sein“, schreibt Simone Buchholz: „Eine Explosion oder eine Explosion oder doch eine Explosion.“ Absatz. Man grinst, aber nur halb, es ist ja dramatisch. Stepanovic’ Herz rast. Dann ist das Kapitel zu Ende. Eine Überschrift und fünf Zeilen Text, 34 Wörter. Doch es kommen noch ein paar mehr Kapitel, bevor das Buch zu Ende ist. Alle sind kurz. Bei einem steht „minus eins“ in der Überschrift. Das bezieht sich auf das Resultat des Knalls. Tough nach außen: Simone Buchholz balanciert ihren Recycling-to-go-Becher mit Kaffee aus der heimischen Küche in der Linken, sie schultert mit der anderen Hand ihren Rucksack, in dem sich Bücher für Menschen befinden, die in diesen Zeiten dringend Bücher brauchen. Wir schnüren ein bisschen durch St. Pauli, zwei Leute, das ist noch keine Ansammlung. Simone Buchholz ist die deutsche Krimiautorin, die Krimis schreibt, die keine Krimis sind. Ihre Hauptfigur heißt seit neun Büchern Chastity Riley, eine Hamburger Staatsanwältin mit amerikanischem Vater, die extrem tough und cool ist, wenn sie den Mund aufmacht, und bei der im Innern alles in sich zusammenstürzt, wenn niemand zuguckt. Im Moment schreibt Simone Buchholz am zehnten Band. Theoretisch zumindest. „Ich kann gerade nicht schreiben“, sagt sie, nicht in diesen aufgeregten Tagen, da müsse sie sich kümmern, um Kind und Mann und Freunde und den Stadtteil. „Da bin ich die Wolfsmutter.“ Goldene Stiefel: Das passt zu ihrer Ausstrahlung. Ihre Augen sind ständig in Bewegung, pro hundert Meter Bürgersteig treffen wir zwei Leute, nach deren Wohlergehen sie sich erkundigt, und sie trägt goldfarbene Stiefeletten. War Gold nicht das Element des Herzens? Simone Buchholz wurde 1972 geboren, sie wuchs in einem kleinen Ort in der Nähe von Aschaffenburg auf, ihre Mutter kam aus Hamburg, ihr Vater aus Nürnberg. Das Positive an dem Dorf: Sieben Kinder, nur zwei davon Mädchen. „Ich habe viel mit Jungs gespielt“, erzählt die Autorin. „Ich spreche beide Sprachen.“ Das Negative: Zugezogene sind und bleiben Zugezogene in einem Dorf. „Ich weiß, was Fremdsein bedeutet.“ Was für eine Autorin etwas Positives ist, denn aus den Rissen und Brüchen und Verletzungen einer Existenz entstehen Geschichten. Schon die Grundschullehrerin fand, das Kind habe zu viel Fantasie. Grauen in Nebensätzen: Als Teenie war Simone Buchholz oft im nahen Frankfurt und erlebte eine Welt, in der durch die dort stationierten US-Soldaten gefühlt die Hälfte der Jugendlichen amerikanische oder afroamerikanische Wurzeln besaß. Sie las Hemingway und Chandler, aber auch Jakob Arjouni, und von Kleist hat sie gelernt, wie man das Grauen in Nebensätzen versteckt. Sie hat in Würzburg Philosophie und Literatur studiert, und das Leben hätte so weitergehen können, doch dann schwängerte ihr Freund eine fremde Frau. „Ich musste ganz schnell ganz weit weg.“ Sie besuchte eine Tante in Hamburg. Nach ein paar Wochen merkte sie, dass sie nicht nur zu Besuch war in der Stadt. Ihr Großvater war dort Opernsänger gewesen. „Ich bin zurückgekommen“, sagt sie. Das war 1996. Simone Buchholz begann, für die Frauenzeitschrift „Allegra“ zu schreiben. Und irgendwann auch anderes. Staatsanwältin Chastity Riley, eine US-Offizierstochter, der mit zwei die Mutter weggelaufen ist und die mit 20 den Vater an eine Kugel aus seiner eigenen Waffe, von ihm selbst abgefeuert, verloren hat, tauchte zunächst in einer Kurzgeschichte auf. Die las jemand, der Simone Buchholz sagte, sie müsse mehr daraus machen. Engel mit Eimern: Als sie ein Romanskript hatte, bekam sie einen Drei-Bücher-Vertrag bei Droemer. Es wurden fünf Bücher, danach wechselte sie zu Suhrkamp. Ihre Auflagen schwanken zwischen 10.000 und 30.000 Exemplaren, die Bücher werden ins Englische, Italienische, Finnische, Dänische und Französische übersetzt. Sie schreibe, sagt Simone Buchholz, weil sie ein großes Bedürfnis habe, dass man ihr zuhöre. Sie höre anderen ja auch zu. Aber damit man ihr zuhöre, verwende sie Metaphern oder ungewöhnliche Ausdrücke. Das mache das Zuhören spannender und damit leichter. Und lustiger. Wenn es in anderen Romanen heftig regnet, schreiben die Verfasser, dass es schüttet. Bei Simone Buchholz sind den Engeln die Eimer umgefallen. Rauchen und saufen: Der erste Roman, „Revolverherz“, trug noch den modischen Untertitel „Ein Hamburg-Krimi“. Aber aus dem Genre hat sich die Autorin längst befreit. Riley ist eine hoch traumatisierte Figur. Und sie ist ganz bestimmt nicht keusch, wie ihr Südstaaten-Vorname suggeriert. Außerdem raucht und säuft sie wie nix Gutes. Simone Buchholz lacht: „Je mehr sie das tut, um so weniger muss ich mir schaden.“ Simone Buchholz schreibt über kaputte Menschen, die mit anderen kaputten Menschen klarkommen müssen, um noch kaputtere Menschen daran zu hindern, weitere Menschen kaputt zu machen. Und darüber, dass dabei, oh Wunder, manchmal was Heiles herauskommt. Nebenbei geht es um Bandenkriminalität, Koksbarone, Kietzgrößen und die hässliche Fratze des Kapitalismus. Aber nur nebenbei. Man merkt: In erster Linie liebt die Autorin ihre Figuren, sie lebt und leidet mit ihnen. Simone Buchholz hat im Zuge ihrer Arbeit die Kürzestkapitel erfunden, und in ihrem bislang letzten Buch, „Hotel Cartagena“, bersten, wenn die Emotionen aufbrechen, auch die Sätze, und plötzlich steht da so etwas wie ein Gedicht. „Hotel Cartagena“ ist das Buch, in dem Ermittler Stepanovic im 14. Stock den Knall hört, und sein Herz rast, weil er dort, wo es geknallt hat, Chastity Riley vermutet. Womit er nicht falsch liegt. Keine weiblichen Opfer: Ja, das ist auch spannend, also auch irgendwie Krimi. Aber vorwiegend ist es faszinierend. Das klassische Sujet übrigens – armes Hascherl wird an der Hafenkante gemeuchelt und der völlig verpeilte, aber hammerharte Ermittler stellt die Gerechtigkeit wieder her – gibt es bei Simone Buchholz nicht. „Keine weiblichen Opfer mehr“, sagt sie. Riley-Roman Nummer zehn kommt im nächsten Frühjahr. Dann will Simone Buchholz auch mal was anderes schreiben, einen Nicht-Krimireihe-Roman, einen „Stand alone“, wie man in der Branche sagt. Worüber? Sie war kürzlich mit einem Postschiff zwischen den Färöer Inseln unterwegs. Ruhe, Natur, ein paar Menschen auf engstem Raum. Das könnte das Thema werden. An einer Straßenkreuzung im Hamburger St. Pauli-Viertel, wo alle anders aussehen und sprechen und sich verhalten als alle anderen, so dass es gar kein Fremdsein mehr gibt, steht Simone Buchholz mit ein paar Leuten im coronagehörigen Abstand. Sie erzählen ein bisschen, sie muntern sich auf, sie tauschen Telefonnummern, falls mal wer was braucht. Simone Buchholz, die Wolfsmutter, verschenkt Bücher aus ihrem Rucksack. Eigentlich sollte Simone Buchholz zum Krimi-Festival „Criminale“, das für den 14. bis 18. April geplant war, nach Hannover kommen. Die Veranstaltung wurde abgesagt; im Moment laufen Gespräche, ob das Festival nachgeholt werden kann. Lesen Sie auch: Thrillerautor Sebastian Fitzek: “Der Mensch muss sich mit spannenden Dingen ablenken“ Gruseln in den eigenen vier Wänden! Die besten neuen Thriller gegen den Corona-Blues Von Bert Strebe