Kommentar zum Grundgesetz-Geburtstag: Vorsicht vor falschen Freunden

Manche Fragen drängen sich auf in diesen Tagen – und sie sind recht grundsätzlich. Darf der Staat überhaupt, was er gerade mit uns macht? Haben wir noch das Recht, dagegen etwas zu sagen? Und wenn schon so vieles verboten ist, muss es dann nicht wenigstens völlig gerecht zugehen? Wer darüber nachdenkt, landet über kurz oder lang beim Grundgesetz. Dem einst als Provisorium erdachten und vielleicht auch deshalb so erfolgreichen Gesetzesrahmen, der sagt, wie unser Land verfasst ist. Heute ist ein besonders guter Tag für einen solchen Gedanken – denn das Grundgesetz hat, wenn man so will, Geburtstag: Am 23. Mai 1949 ist es verkündet worden. Eine Verfassung ist kein Museum: Man könnte diesen Tag feiern. Sicher, die Verfassung von heute ist mit der von 1949 nur noch begrenzt identisch. Fast jeden zweiten Artikel haben Bundestag und Bundesrat seitdem verändert, gern auch mehrfach. Im demokratischen Staat geht das in Ordnung. Eine Verfassung ist kein Museum für Rechtssätze, sondern setzt ihre Leitplanken sinnvollerweise dort, wo die Menschen leben. Das gelingt dem Grundgesetz in bemerkenswerter Weise – nicht wenige Deutsche sind mittlerweile stolzer auf ihre Verfassung als auf das Land, in dem sie gilt. Das kühle, aber auch erfrischend unpathetische Wort vom „Verfassungspatriotismus“ hat bei uns einen guten Klang. Den aber lebt man wohl eher still, ohne großes Tamtam. Nie ist alles nur schwarz oder weiß: Dabei wäre es gerade in diesem Jahr nicht verkehrt, noch eine Spur deutlicher zu sagen: Unsere Verfassung ist ein historisch hart erarbeitetes Glück. Es ist wichtig, sie zu verteidigen – gegen ihre Feinde, denen sie es noch zu leicht macht, aber auch gegen ihre falschen Freunde. Die stolzieren derzeit gern als Corona-Skeptiker durch die Republik und behaupten, die letzten Vertreter grundgesetzlicher Freiheit zu sein. Sie übersehen dabei, wie fein das Netz des Grundgesetzes gewebt ist. Die begrenzte Einschränkung von Grundrechten etwa ist sehr wohl zulässig; nie ist alles so schwarz oder weiß, wie es jene gern hätten, die es schlicht mögen. Im Rechtsstaat kann so gut wie nichts absolut sein. Außer eben jenem Satz, den die Autorinnen und Autoren des Grundgesetzes in Artikel 1 gleichsam in Stein gemeißelt haben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Streit um die Verfassung ist nicht nur erlaubt, er ist sogar nötig: Was das aber für unser Leben im Allgemeinen oder die Seuchenbekämpfung im Besonderen heißt, steht dort nicht. Es ist im gesellschaftlichen und politischen Alltag immer wieder neu auszuhandeln – zumal in Krisenzeiten. Es geht jetzt also nicht um die Verfassung – es geht um unser Leben mit ihr. So gesehen ist heftiger Streit nicht nur erlaubt, er ist nötig. Der Staat unseres Grundgesetzes lebt von ihm. Wie gut. Lesen Sie auch: Sätze ohne Schnörkel: Die der Bundestag 2019 den 70. des Grundgesetzes feierte Von Hendrik Brandt