Als Passanten am frühen Sonntagmorgen in Ostritz bei Görlitz einen völlig erschöpften Mann an einen Brückenpfeiler geklammert entdecken, beginnt ein Wettrennen gegen die Naturgewalten. Ein Luftretter der Wasserwacht des Deutschen Roten Kreuzes seilt sich 70 Meter zu dem Mann ab und rettet ihn vor dem Ertrinken. In Neukirchen bei Chemnitz dagegen verlieren drei Menschen den Kampf gegen die Wassermassen. Sie ertrinken in einem Keller.
Sachsen hat am Wochenende die schlimmste Naturkatastrophe seit 2002 erlebt. In Görlitz erreichte der Pegel der Neiße am Sonntagmorgen einen Höchststand von 7,07 Metern, normalerweise sind es nicht einmal zwei Meter. Das war nach Angaben des Landeshochwasserzentrums in Dresden die höchste Marke seit Beginn der Aufzeichnungen vor gut hundert Jahren. Der sonst beschauliche Fluss, der Görlitz vom polnischen Zgorzelec trennt, verwandelte sich in eine tosende, braune Flut.
„Das schlimmste Szenario wurde übertroffen“, sagt Umweltminister Frank Kupfer (CDU). 24 Stunden nach Beginn der neuerlichen Flut kann er es immer noch nicht fassen. Klar, es habe Prognosen für starken Regen gegeben. Dass sich Regenwolken aber faktisch an einer Stelle entluden und scheinbar nicht weiterwanderten, sei überraschend gewesen. Daher wurde Sachsen wie durch Nadelstiche nur punktuell getroffen: erst Chemnitz, dann die Sächsische Schweiz, wenig später Zittau ganz im Osten. Damit sind vor allem Gebiete betroffen, die bei der Jahrhundertflut vor acht Jahren glimpflich davonkamen.
In Görlitz oder Sebnitz nehmen Touristen neue „Sehenswürdigkeiten“ in den Fokus ihrer Kameras: kaputte Brücken, aufgerissene Straßen, erschöpfte Feuerwehrleute und deprimierte Einwohner. Die
Behörden warnen vor „Katastrophentourismus“, er behindere nur die Aufräumarbeiten.
Ursula Felberdam steht mit mehreren Leuten in ihrem Bekleidungsgeschäft am Marktplatz von Sebnitz. Hier kam das Wasser ohne Vorwarnung, in Felberdams Laden stand es 50 Zentimeter hoch. Die Höhe des Schadens kann sie noch nicht beziffern. „Ich muss erst mal selbst mit der Sache klarkommen.“ Sie hofft nun darauf, dass am Ende die Versicherung zahlt. Nur über eines kann sie an diesem Tag lächeln: „Es sind so viele Helfer zum Aufräumen gekommen. Eine Nachbarin hat gerade ein paar belegte Brote gebracht.“
Vor dem Görlitzer Berufsschulzentrum haben Hilfskräfte ein Notlager eingerichtet. Immer wieder halten Busse mit Menschen, die wegen des Neiße-Hochwassers ihre Wohnungen verlassen mussten. In der Turnhalle sind Feldbetten für etwa 180 Personen aufgestellt. „Wir haben bisher etwa 340 Leute betreut“, sagt Bernhard Wittig von den Maltesern. Viele Betroffene kommen bei Verwandten unter. Nur in Einzelfällen wollten die Leute nicht aus ihren Häusern. Mehr als 1400 Menschen mussten im ganzen Bundesland evakuiert werden.
Auch wenn die exakte Schadensbilanz noch nicht feststeht, in einem Punkt sind sich viele einig: Das Krisenmanagement war deutlich besser als in den ersten Fluttagen 2002. „Es läuft geordnet und ruhig, ohne Hektik“, meint der sächsische CDU-Regierungschef Stanislaw Tillich. Die Menschen hätten aus der Katastrophe Konsequenzen gezogen. Aber während die Einwohner von Görlitz, Sebnitz oder Chemnitz aufatmen, schwappt die Hochwasserwelle weiter. Die Behörden befürchten Rekord-Pegelstände auch an Spree und Elbe.
Anett Böttger und Jörg Schurig