Herr Prof. Tomuschat, können die Briten jetzt aus der EU austreten, einfach so?
Ja, sie müssen nicht einmal einen Antrag stellen oder eine Begründung liefern. Laut Artikel 50 des Lissaboner Vertrags reicht eine Kündigungserklärung vollkommen aus. Die Briten müssen Brüssel bloß mitteilen, dass sie auszuscheiden gedenken. Ganz so, als würden Sie Ihre Wohnung kündigen. Der Ausgang der Volksabstimmung gilt jedoch nicht als Kündigungserklärung. Die muss schon von der Regierung verfasst werden.
Kann die Regierung jetzt sofort die Kündigung in Brüssel einreichen?
Könnte sie, sie wird dies aber nicht tun. Ich denke, dass London sich jetzt erst einmal Zeit nehmen wird, um eine Ausstiegsstrategie festzulegen und sein künftiges Verhältnis zur EU zu definieren. Unternehmer und Investoren sollen ja so schnell wie möglich Planungssicherheit erhalten. Sie müssen wissen, was für ein Verhältnis Großbritannien zur EU anstrebt. Die Briten wollen Teil des gemeinsamen Binnenmarktes bleiben, sie wollen den freien Austausch von Waren und Kapital, doch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer lehnen sie ab.
Können denn die Briten das eine ohne das andere haben? Und mit wem werden sie verhandeln?
Am gemeinsamen Binnenmarkt haben ja beide Seiten ein großes Interesse, der britische Exportmarkt ist auch für die Europäer wichtig. Gut möglich, dass sie da politische Zugeständnisse machen, obwohl diese Freiheiten in den EU-Verträgen eng aneinander gekoppelt sind. Die auf zwei Jahre angelegten Verhandlungen wird die EU-Kommission führen, das Mandat dazu erhält sie aber von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Eine sofortige Aussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wie das Brexit-Lager sie fordert, ist allerdings lebensfern. Es geht um Hunderttausende Einzelschicksale. Sollen jetzt alle EU-Ausländer auf der Insel Visa beantragen müssen? Nach welchen Kriterien? Da wird es lange Übergangsfristen geben müssen. Großbritannien wird Rücksicht nehmen müssen auf die Menschen, die sich als Einwanderer dort eingerichtet haben.
Was ist mit den britischen EU-Parlamentariern, dem britischen EU-Kommissar, den britischen Richtern am Europäischen Gerichtshof? Müssen die jetzt alle ihren Schreibtisch räumen?
Auf längere Sicht wird es keinen Briten in den EU-Institutionen geben. Vom Übersetzungsdienst vielleicht abgesehen. Formal ändert das Referendum nichts am Mandat der britischen Parlamentarier und des Finanzkommissars Jonathan Hill. Aber sie werden sich fortan wohl aus politischen Gründen zurückhalten müssen. Der Ausgang des Referendums ist unmissverständlich.
Von Marina Kormbaki