Der liberale Bevölkerungsteil fürchtet nun einen für ihn dramatischen Wandel des Landes – bis hin zu Kopftuchzwang, Alkoholverbot und getrennten Stränden für Männer und Frauen.
Inwieweit diese Sorge berechtigt ist, ist unklar. Im Wahlkampf verkaufte sich die Ennahdha-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP. Niemand werde an den Freiheits- und Bürgerrechten rütteln, sagte Ghannouchi. Auf Parteiveranstaltungen saßen Männer und Frauen dennoch meist getrennt. „Dafür haben wir nicht die Revolution“, kommentiert eine junge Frau aus Tunis. Der im Januar gestürzte Langzeitherrscher Zine al-Abidine Ben Ali sei ein korrupter Verrückter gewesen, als Frau habe sie aber damals wenigstens sitzen können, wo sie wolle.
Stark ist die Ennahdha vor allem in den sozial schwachen Stadtteilen und in den ländlichen Gebieten. Manche werfen der Partei vor, mit illegalen Spendengeldern aus anderen arabischen Ländern auf Wählerjagd gegangen zu sein. „Es sind zahlreiche Gerüchte über Stimmenkäufe im Umlauf“, sagt EU-Wahlbeobachter Michael Gahler. „Wir haben bislang aber noch keinen einzigen nachgewiesenen Fall gehabt.“ Als kleiner Hoffnungsschimmer für liberale Tunesier gilt derzeit, dass Ghannouchi keine größeren echten Bündnispartner hat. Sollten die Ennahdha am Ende deutlich unter der 50-Prozent-Marke liegen, könnten sich die vielen Parteien am anderen Ende des politischen Spektrums zusammenschließen. Die verfassungsgebende Versammlung mit ihren 217 Mitgliedern soll in den ersten Novemberwochen zum ersten Mal zusammenkommen und dann auch einen neuen Übergangspräsidenten wählen.
Mit großer Sorge wird die derzeitige Ennahdha-Diskussion vor allem in der Tourismusbranche gesehen. Nach den Revolutionsunruhen brach das Urlaubergeschäft um knapp die Hälfte ein. 22 000 Arbeitsplätze gingen verloren, davon 3000 Vollzeitstellen. Aus Angst vor neuer Gewalt meiden bis heute manche Europäer die Strände mit dem türkisblauem Wasser auf Djerba. Bei einer Islamisierung des Landes bestehe die Gefahr, dass die Strände leer blieben, fürchten viele – nicht nur in den Touristengebieten.
Ansgar Haase