Halbzeitbilanz der Landesregierung: Niedersachsens Minister in der Einzelkritik

„Richtig gute Jahre für Niedersachsen“, diese hat Ministerpräsident Stephan Weil Mitte November 2017 versprochen, als die Sozialdemokraten auf einem Landesparteitag der Bildung einer Großen Koalition in Hannover zustimmen. Nun feiert diese Groko in Hannover, die sich durch geräuschloses Regieren vom Groko-Zwist in Berlin abheben sollte, Halbzeit. Und das Regierungshandeln ist schwer überschattet von der Bewältigung der Corona-Krise – auf einschneidende Regierungsverordnungen folgte die schrittweisen Lockerung der Freiheitseinschränkungen. Die HAZ wirft einen Blick auf jedes einzelne Mitglied des Landeskabinetts und zieht eine Zwischenbilanz. Vom Getriebenen zum Kraftzentrum: Ministerpräsident Stephan Weil (SPD): Ministerpräsident Stephan Weil gab lange den präsidialen Landesvater, der manches auch mal laufen ließ – manchmal auch dann, wenn es nicht gut lief. Dennoch wurde er lange als möglicher SPD-Bundesvorsitzender gehandelt. Dass er dem lange nicht widersprach, ohne am Ende aber anzutreten, nahm ihm mancher krumm. In der Corona-Krise allerdings entwickelte er sich zum bestimmenden Kraftzentrum des Regierungshandelns. Zu Beginn der Epidemie erweckte der 61-Jährige, der alle Corona-Maßnahmen in enger Abstimmung mit den anderen Ländern und der Bundeskanzlerin umsetzen wollte, eher den Eindruck eines Getriebenen, der sich nicht von Bayern den Takt vorgeben wollte. Doch mit der Vorlage des sogenannten Niedersachsenplanes zu den einzelnen Phasen der Lockerungen der Coronabeschränkungen wurde Weil auch bundesweit zu einem beachteten Akteur. In der Koalition verstand es Weil, aufbrechende Kontroversen gut zu moderieren. Hatte er anfangs noch dem Sozialministerium weitgehend freie Hand bei der Abfassung der Corona-Beschränkungen gelassen, so griff er kurz vor Ostern ein, als sogar der Besuch von engen Familienmitgliedern und Partnern untersagt werden sollte. Locker und zupackend: Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU): Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (53) hatte am Anfang der Regierungszeit keinen leichten Stand. Was nicht nur daran lag, dass er im Kabinett die Nummer zwei hinter Ministerpräsident Weil ist. Auch wenn Althusmann sich selbst und seine CDU auf Augenhöhe mit dem Koalitionspartner sieht. Der studierte Betriebswirt und Sozialpädagoge aus Lüneburg hatte sich vielleicht auch zu viel zugemutet: stellvertretender Ministerpräsident, CDU-Landeschef, Mitmischen in der Bundespolitik. Althusmann wirkte verkrampft, machte kleine Fehler. Doch das Bild hatte sich schon vor Corona gewandelt und wird in der Krise noch einmal schärfer: Althusmann kommt locker daher wie wenige andere Kabinettskollegen – und wirkt zugleich zupackend. Für den Wirtschaftsminister geht in der aktuellen Phase vieles zu zögerlich, ist die SPD zaudernd. Althusmann will klare Ansagen für Gastronomie und Tourismus – und scheut auch den Streit in der Koalition nicht. Als VW-Aufsichtsrat kämpft er zudem für die in Niedersachsen lebenswichtige Autobranche. Lesen Sie auch: Das hat die Groko bisher geschafft – und das nicht Politisches Schwergewicht: Innenminister Boris Pistorius (SPD): Dafür bewarb sich Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (60) um den SPD-Vorsitz. Doch sein mutiger Schritt wurde von der SPD-Basis nicht honoriert – und in Hannover wurde der Innenminister, zweifellos ein Schwergewicht in der Landesregierung, mit dem Vorwurf konfrontiert, er kümmere sich zu sehr um Berlin. Nach zähen Verhandlungen mit der Union präsentierte er ein moderneres Polizeigesetz, stellte zusätzliche Polizisten ein und ein neues Verfassungsschutzgesetz in Aussicht. Zu Beginn der Corona-Krise wandte sich Pistorius mit scharfen Ermahnungen an die Öffentlichkeit, doch die Kontaktbeschränkungen ernst zu nehmen. Dass er einer der wenigen Minister ist, die auch außerhalb Niedersachsens wahrgenommen werden, zeigt sein Engagement für minderjährige Flüchtlinge, die auf der griechischen Insel Lesbos gestrandet waren. Vor schweren Zeiten: Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU): Finanzminister Reinhold Hilbers (55) ist derzeit nicht um seinen Job zu beneiden. Zu Jahresbeginn konnte Hilbers noch aus dem Vollen schöpfen. Der Landeshaushalt 2020 hat mit rund 34 Milliarden Euro ein Volumen wie nie zuvor in der niedersächsischen Geschichte. Doch in der Corona-Krise brechen Steuereinnahmen in Milliarden-Höhe weg. Jetzt reicht das Geld plötzlich vorne und hinten nicht mehr. Hilbers hat in dieser Woche schwere Zeiten und einen Abschied vom bisherigen Wohlstand angekündigt. Besonders ärgerlich für den Finanzminister: Kaum ist die Schuldenbremse in Kraft getreten, für die er sich jahrelang eingesetzt hat, wird sie durch die Corona-Pandemie wieder ausgehebelt. Der bodenständige Kaufmann aus der Grafschaft Bentheim betont deshalb, dass künftig mehr gespart werden müsse. Eine unbegrenzte Kreditaufnahme könne sich das Land nicht leisten. Hilbers muss hoffen, das die Corona-Krise nicht auf den Bankensektor durchschlägt. Das könnte seine bisher größte Leistung schmälern: die Rettung der angeschlagenen Landesbank Nord/LB. Mit Mühe zur Krisenmanagerin: Sozialministerin Carola Reimann (SPD): Die frühere Bundestagsabgeordnete Carola Reimann (52) schien anfangs Mühe zu haben, sich in ihr neues Amt einzufinden. Doch ausgestattet mit viel Geld „befriedete“ sie die Krankenhauslandschaft und versuchte auch den Streit um die Pflegekammer beizulegen, was aber noch nicht gänzlich gelang. In der Corona-Krise gewann die promovierte Naturwissenschaftlerin an Statur, auch wenn es in den hektisch zusammengestrickten und zum Teil umständlichen Corona-Verordnungen einige Widersprüche und Unklarheiten gab. Reimann, bei der der Krisenstab angesiedelt ist, mahnte die Bevölkerung zur Disziplin und rüstete Niedersachsen mit zahlreichen zusätzlichen Krankenhausbetten aus für einen Ernstfall, der in der anfangs befürchteten Wucht nicht eintraf. Lieber hinter den Kulissen: Wissenschaftsminister Björn Thümler (CDU): Wissenschaftsminister Björn Thümler (49) steht normalerweise nicht so im Fokus wie andere Kabinettskollegen. Dabei ist mit der Sanierung und dem Neubau der Hochschulmedizin eine der größten Aufgaben der Landesregierung in dieser Legislaturperiode in seinem Ressort angesiedelt. Während Göttingen schon recht weit in den Bemühungen ist, hinkt der Neubau der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) dem Zeitplan hinterher. Thümler sorgte in der ersten Hälfte der Legislaturperiode manchmal gewollt für Aufsehen: wie mit seinen vergeblichen Vorstößen, die Kultureinrichtungen in Hannover zwischen Stadt und Land neu aufzuteilen. Manchmal hätte der studierte Politikwissenschaftler aus der Wesermarsch die Probleme wohl lieber hinter den Kulissen gelöst: wie beim geplanten Kauf der Marienburg, der den jüngsten Welfen-Streit auslöste. Diese sprichwörtliche Kuh hat Thümler inzwischen gut vom Eis gebracht. Mit der angekündigten Öffnung der Theater in der Corona-Krise, aus der bisher nichts wurde, hat er für Unruhe gesorgt. Freundlicher Sympathieträger: Umweltminister Olaf Lies (SPD): Der frühere Wirtschaftsminister Lies (53) wechselte ins Umweltressort, ohne den wirtschaftlich-pragmatischen Blick auf die Dinge zu verlieren. Lies arbeitete sich schnell ein in Themen wie die Suche nach einem atomaren Endlager oder auch den Konflikt zwischen Weidetierhaltern und Wolfsfreunden. Doch beim Wolf hatte Lies wenig Glück. Die monatelange Jagd nach einem sogenannten Problemwolf endete erfolglos, dafür brachte der Umweltminister eine Verordnung heraus, die den Abschuss auffälliger Tiere erleichtern soll. Lies’ Versuch, ein Volksbegehren für mehr Artenschutz durch eine niedersächsische Abmachung zu verhindern, ist nicht von Erfolg gekrönt. Besser sieht es im Konflikt um den Ausbau der Windkraft aus, für die Lies vehement streitet. Der freundliche Minister gilt als einer der Sympathieträger der SPD. Akzente in der Nebenrolle: Justizministerin Barbara Havliza (CDU): Justizministerin Barbara Havliza (62) spielt in der Corona-Krise eher eine Nebenrolle im Kabinett. Das macht aber auch nichts, denn sie hat in den ersten zweieinhalb Jahren mehr Akzente in der Justizpolitik gesetzt als viele von ihr erwartet hätten. Havliza hat Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Bekämpfung der Clan-Kriminalität geschaffen. Sie hat sich erfolgreich um mehr Sicherheit für die Gerichte und um zusätzliches Personal in der Justiz bemüht. Die gebürtige Dortmunderin hat eine Bundesratsinitiative gegen Hasskriminalität gestartet. Die nach den Missbrauchsfällen von Lügde eingesetzte Kinderschutzkommission ist an ihr Ressort angedockt. Havliza war lange selbst Richterin und ist vor allem durch die Islamisten-Prozesse in Düsseldorf in der Szene bekannt geworden. In der Richterschaft genießt sie großes Ansehen. Die Justizministerin kam bisher nur einmal richtig ins Schwimmen: als es in der Affäre um den Mafiaboss Igor K. so aussah, als hätte sie dessen von vielen geforderte Verlegung aus der MHH in ein Justizkrankenhaus hintertrieben. Der „Troubleshooter“: Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD): Der Kultusminister Grant Hendrik Tonne machte den gebührenfreien Besuch der Kindergärten möglich, handelte sich dafür aber anfangs viel Ärger mit den Kommunen ein. Der 43-jährige Jurist, vormals Geschäftsführer der SPD-Fraktion, wurde als „Troubleshooter“ ins Kultusministerium geschickt – und hatte wie seine Vorgänger alsbald Ärger mit Lehrer- und Elternverbänden, obwohl er mehr Lehrer einstellte. Die mangelnde Unterrichtsversorgung wird ihm wie seinen Vorgängern angelastet. In den Corona-Tagen hatte der sonst souverän agierende Minister anfangs gezögert, schnell die Schulen zu schließen. Streit gab es auch um Stornokosten für abgesagte Klassenfahrten. Auch der Streit um die unterschiedliche Besoldung von Gymnasiallehrern und den Lehrern anderer Schultypen wird die Corona-Zeit vermutlich überdauern. Atempause durch Corona: Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU): Um Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (55) ist es in den vergangenen Wochen erstaunlich still geworden. In den ersten beiden Regierungsjahren der rot-schwarzen Koalition war die Landwirtin aus Bad Münder kaum aus den Schlagzeilen heraus gekommen. Weideprämie, Schlachthof-Skandale, Düngestreit: die Liste der Themen, die Otte-Kinast abarbeiten muss, ist lang. Dabei schlug sich die politische Seiteneinsteigerin nach Anfängerfehlern erstaunlich wacker. Bei den Landwirten genießt Otte-Kinast großes Vertrauen, auch wenn sie sich im Kampf gegen strengere Düngeregeln am Ende nicht gegen den Bund durchsetzen konnte. Just in dem Moment als die Luft für die Agrarministerin dünner zu werden drohte, verschaffte ihr die Corona-Krise ein Atempause. Das Thema Landwirtschaft wurde für einige Zeit an den Rand gedrängt. Dass Otte-Kinast das eine oder andere Problem vielleicht nicht entschlossen angepackt hat, zeigt sich indes jetzt mit dem Abflauen der Krise: In den Schlachthöfen und vor allem bei der Unterbringung der überwiegend ausländischen Arbeitskräfte hat sich wenig verbessert. Leise und effektiv: Europaministerin Birgit Honé (SPD): Vor allem die Einrichtung dieses Ministeriums, die auch aus Proporzgründen innerhalb der rot-schwarzen Regierung geschah, sorgte für viel Kritik. Die 59-jährige Verwaltungsjuristin Birgit Honé, zuvor Staatssekretärin, konnte sich aber in der Brexit-Krise als kundige Sachwalterin europäischer Belange profilieren. Sie ist auch Bundesratsministerin und wirkt hier leise und effektiv. In der Corona-Krise verschwand sie allerdings fast völlig aus der Öffentlichkeit. Dafür halfen ihre Presseleute im Sozialministerium mit, das von Bürgeranfragen geradezu überschüttet wurde. Lesen Sie auch: Harte Debatte im Landtag: Kein Konsens mehr im Kampf gegen Corona Ministerpräsident Weil im Interview: „Masken werden bald zu unserem Leben gehören“ Wirtschaftsminister Althusmann im Interview: „Exit-Strategie heißt nicht nur Wirtschaft“ Von Michael B. Berger und Marco Seng