Neue Konzepte für die Innenstädte: IHKN fordert radikalen Wandel

Die Corona-Krise hat den Innenstadthandel voll erwischt. Etwa zehn bis 15 Prozent der Geschäfte in Niedersachsen werden in den nächsten Monaten aufgeben müssen, schätzt Uwe Goebel, Präsident der niedersächsischen Industrie- und Handelskammer (IHKN). In einem zwölfseitigen Thesenpapier listet die IHKN jetzt Forderungen auf, was sich für die Innenstädte ändern müsse. Zusammengefasst lässt sich sagen: eigentlich fast alles. Innenstädte: Handel nicht mehr Hauptfrequenzbringer: Die zentrale These: Die Fokussierung der Innenstädte auf den Einzelhandel als Hauptfrequenzbringer wird in Zukunft nicht mehr funktionieren. „Die Städte waren bisher vom Einzelhandel geprägt“, sagt IHKN-Handelssprecherin Kathrin Wiellowicz. Im Krisenjahr 2020 aber hätten ausgerechnet die Textilunternehmen, die starke Innenstädte prägen, dramatische Umsatzeinbußen gespürt. Im ersten Lockdown (Vergleich April 2020 zu April 2019) betrug der Rückgang laut Statistischem Bundesamt für die stationären Geschäfte mit Textilien, Bekleidung, Schuhen und Lederwaren bundesweit 70,9 Prozent. „Diese Unternehmen sind besonders insolvenzgefährdet“, sagt Wiellowicz. Der Onlinehandel hat um 24,1 Prozent zugenommen. Es wird also Leerstände geben in den Innenstädten, in den Kleinstädten wahrscheinlich schneller und stärker spürbar als in Großzentren. Leerstände ziehen eine Abwärtsspirale nach sich: Das Angebot sinkt, es kommen weniger Kunden, das zwingt noch mehr Läden zum Aufgeben. „Ein Teufelskreis“, bestätigte Landesbauminister Olaf Lies (SPD), als die IHKN ihr Thesenpapier in einer Videokonferenz vorstellte. „Aber das Ganze ist nicht erst gestern eingetreten“, so Lies: „Die Pandemie hat die schwierige Situation verschärft und beschleunigt.“ Strukturwandel nötig: Es braucht also einen grundlegenden Strukturwandel. Wenn die Innenstadt ihre Magnetwirkung nicht mehr durch den Handel allein entfaltet, seien „neue Nutzungen“ nötig, sagte Wiellowicz. Mehr Wohnen etwa oder Kreativwirtschaft zum Beispiel als Kombination aus Handwerk und Verkauf. Lesen Sie auch Corona trifft den Handel in Hannover: Die Innenstadt leert sich, Geschäftsschließungen stehen bevor Kommentar: Die Innenstadt von Hannover braucht mehr Attraktionens Hannover-City: Onay startet Dialog zum Umbau der Innenstadt Kunst- und Kultureinrichtungen müssten in die Innenstädte einziehen, Gemeinschaftsbüros (Coworking), Bildungseinrichtungen. Vielleicht seien gemeinschaftlich bewirtschaftete Grünflächen (Urban Gardening), grüne Dächer als Spazierräume oder Kletterwände (Boulder-Flächen) die richtige Antwort, sagt Wiellowicz. Insgesamt zwölf Vorschläge listet das IHKN-Papier auf. Das ist alles nicht neu. Mehr Wohnen in den Innenstädten ist seit vielen Jahren ein Thema. Wanderwege über grüne City-Dächer werden in Hannover seit 2019 diskutiert, mit dem Vaund-Store gibt es ein Vorzeigeprojekt für neue Handelskonzepte. Ein Hauptproblem, das dem Kulturwandel der Innenstädte im Weg steht, sind die exorbitant gestiegenen Mieten für City-Immobilien, die Kreativprojekten ein Ausprobieren solcher Ideen erschweren. Finanzhilfe muss schnell fließen: Und so fordert die IHKN vom Minister Lies konkrete und schnelle Finanzierungshilfen für den Innenstadtumbau. Weil das meiste Geld vom Bund kommt und als Städtebauförderung mit langen Antragsfristen ausgezahlt wird, wollen Lies und Goebel gemeinsam in Berlin vorsprechen und für eine Umstellung der Hilfen in Corona-Zeiten werben. Lies kündigt aber auch an, über Hilfen direkt aus seinem Ministerium nachdenken zu wollen. Das könnte vielleicht schneller gehen. Zu weiteren der insgesamt acht IHKN-Forderungen zählt etwa, nach der Corona-Krise Sonntagsöffnungen zu erlauben. Das klinge zwar nach Handelsfixierung, sei aber ein wichtiger Impuls, um Menschen schnell wieder die Attraktivität ihrer Zentren näherzubringen, sagt Wiellowicz. Zuletzt hatte das Land sein Gesetz geändert, um Sonntagsöffnungen auch ohne große Anlässe wie Jubiläen oder Stadtfeste zu ermöglichen. Die Kommunen müssten dieses Angebot nun auch nutzen, heißt es bei der IHKN. Bringen BID die Lösung? Langfristig sollen auch sogenannte Business-Improvement-Districts (BID) den Innenstadtwandel befördern. In ihnen schließen sich (Handels-)Mieter und Immobilieneigentümer zu Quartiersgemeinschaften zusammen und finanzieren Umbau und Aufwertung der Geschäftsbereiche. Das Besondere: Wenn ein BID beschlossen ist, müssen alle mitbezahlen, keiner kann sich vor den Kosten drücken und nachher von der Aufwertung profitieren. Zehn Bundesländer haben bereits entsprechende Gesetze, Niedersachsen hängt jedoch hinterher. „Es wäre schön, wenn es schneller gegangen wäre“, sagt Minister Lies. Für April erwarte er jetzt die Rechtskraft des Gesetzes. IHKN-Präsident Goebel fordert, dass der Handel jetzt schnell und unbürokratisch die Überbrückungshilfen ausgezahlt bekommt. Die Lager seien voll mit Winterwaren, die nicht verkauft werden konnten, jetzt komme schon die Frühjahrsware, die bezahlt werden müsse – aber es mangele den Händlern an Liquidität. Innenstadtdialog nötig: Und dann sei zentral, dass jetzt schnell alle Beteiligten in den Innenstädten an einen Tisch geholt würden, heißt es bei der IHKN. In Hannover ist so etwas mit dem Innenstadtdialog von Oberbürgermeister Belit Onay geplant. Dabei müsse es auch um die Erreichbarkeit der Innenstadt gehen, aber nicht nur, fordert Handelsfachfrau Wiellowicz. Vor allem müssten immer die Immobilieneigentümer mit am Tisch sitzen. „Wir müssen jetzt alle unkonventionelle Wege gehen“, sagt Minister Lies. Man müsse sich Kreativität für neue Nutzungen trauen: „Ob für ein 150-Quadratmeter-Geschäfte in einer Kleinstadt oder für das leerstehende Karstadt-Hau s in Hannovers Innenstadt.“ Info: Das IHKN-Thesenpapier ist abrufbar unter diesem Link. Von Conrad von Meding