Laatzen: Interview mit Psychologe Beisner nach Polizeieinsatz in Gleidingen

Diplom-Psychologe Andreas Beisner spricht im HAZ-Interview darüber, welche Folgen falsche Verdächtigungen für Unschuldige haben können und warum es immer wieder zur Verbreitung von Gerüchten kommt – wie beim Polizeieinsatz vor einer Woche in Gleidingen. Beisner arbeitet seit mehr als 25 Jahren als niedergelassener Psychologe und Psychotherapeut und hat seit 16 Jahren eine Praxis in Alt-Laatzen. Sein Schwerpunkt liegt unter anderem in der Behandlung und Diagnostik von Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Suchterkrankungen und Depressionen. Wie wirkt es sich auf die Psyche eines Menschen aus, wenn Nachbarn, die ihn sonst freundlich grüßen, plötzlich das Gerücht verbreiten, dass Kinderleichen aus seinem Haus geborgen worden sein sollen? Die ersten Reaktionen können individuell sehr verschieden sein. Sie können Fassungslosigkeit, Sich-selber-infragestellen, Schuldgefühle, starke Verunsicherung oder auch Wut, Zorn und Hassgefühle dem Aggressor gegenüber beinhalten. Was bewirkt ein so massiver Polizeieinsatz wie vergangene Woche in Gleidingen bei einem Unschuldigen? Er kann, je nach Widerstandskraft und Verletzlichkeit der Person, zu Symptomen wie Angst- und Schreckzuständen, Schlafstörungen, Gereiztheit, starker innerer Unruhe, Zittern, Freud- und Interesselosigkeit führen. Haben sich diese Symptome über Monate manifestiert, kann das seelische Erkrankungen wie Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen verursachen. Lesen Sie auch: „Plötzlich stand ein Trupp Vermummter bei uns im Schlafzimmer“ Wie lange brauchen Betroffene, um die falschen Verdächtigungen gegen sie zu verarbeiten? Bei therapeutischer Hilfe in der Regel ein Jahr. Dabei hängt dies auch von der Widerstandskraft und Verletzbarkeit der betroffenen Person ab. Was raten Sie Opfern falscher Verdächtigungen, um mit dem Erlebten fertig zu werden? Sich zunächst Hilfe holen. Diese kann je nach Schweregrad der Symptomatik unterschiedlich sein, wie sich Fürsprecher suchen, auch anwaltlich, sich mitzuteilen in der Familie und bei Freunden, den Weißen Ring aufsuchen, eine Selbsthilfegruppe besuchen, sich einem Täter-Opfer-Ausgleich stellen oder eine ambulante oder stationäre Verhaltenstherapie absolvieren. Der Gesetzgeber hat dazu eine sogenannte psychotherapeutische Sprechstunde bereitgestellt, wobei ein qualifizierter Psychologe oder Psychotherapeut schnell feststellen wird, was für den Betroffenen zutreffen kann. Die bundesweite Rufnummer lautet 116 117. Wie entstehen Gerüchte? Gerüchte haben zunächst immer einen Urheber, der unterschiedliche Motive damit verbindet, etwa jemandem schaden möchte oder einen Vorteil erwartet, wie aktuell ein Präsident behauptet, die Wahl sei gefälscht. Gerüchte können aber auch Vorboten für Tatsachen werden, und sind deshalb auch oft die neueste Information. Und wer möchte da nicht dabei sein in der heutigen Informationsgesellschaft? Ein Gerücht ist eine Information, und je länger der Informationsweg ist, desto mehr verändert es sich auch in eine Unwahrheit. Inwieweit befeuern tatsächlich Gewalttaten, wie es sie auch schon in Gleidingen gab, Gerüchte? Gewalttaten haben immer etwas Schreckliches und üben gleichzeitig eine Faszination aus. Menschen versuchen sich dann schnell in Erklärungen, um eine Kontrolle über das Unfassbare zu bekommen. Dann können Gerüchte auch als Kontrollversuch verstanden werden. Menschen nutzen Gerüchte aber auch gern, um sich selbst aufzuwerten oder um sich herauszustellen. Was können Nachbarn und andere tun, um den zu Unrecht Beschuldigten zu helfen – oder zumindest nicht weiter zu schaden? Zusammenhalten und eine Einheit bilden gegenüber dem Aggressor, den Geschädigten das Gefühl nehmen, ausgegrenzt zu sein, und alles gemeinsam tun, um dem sogenannten und drohenden „bürgerlichen Tod“ der Betroffenen entgegenwirken zu können. Von Stephanie Zerm und Astrid Köhler